Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)

Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)

Titel: Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Achim Peters
Vom Netzwerk:
einem Kreis gegenüber. Alle Teilnehmer sind übergewichtig. Sie haben sich entschieden, an einem psychologischen Forschungsprojekt zur Behandlung von Übergewicht teilzunehmen. Jeder der Anwesenden wird im Verlauf der Therapie über seine Lebens- und Leidensgeschichte sprechen. Für viele ist es das erste Mal, dass sie überhaupt die Möglichkeit haben, ihre Sorgen und Nöte mitzuteilen. Ein Mädchen empfindet seit Jahren ungelöste Konflikte in der Familie als große Belastung, ein Junge verzweifelt am Mobbing in der Ausbildung, ein anderer fühlt sich ausgebrannt und kann seit Monaten kaum noch seinen Alltag bewältigen. Die Familientherapeutin Laurel Mellin, die die Sitzung leitet, stellt Fragen, ermuntert zum Sprechen und zum Betrachten der eigenen Befindlichkeit. Was fühle ich? Empfinde ich eher Trauer, Angst oder Schuld? Kann ich die Ursachen meines schlechten Gefühls benennen?
    Gruppen wie diese betreut Mellin seit vielen Jahren. 2005 hatte ich Gelegenheit, ihr bei der Arbeit zuzusehen. Sie hält Trainingsprogramme ab, die den Teilnehmern helfen sollen, Konfliktfelder zu erkennen, Probleme offensiv anzugehen und Lösungswege zu beschreiten. Beim Großteil ihrer jugendlichen Patienten ist der mit ungelösten inneren oder äußeren Konflikten verbundene Stress zu einem klinischen Problem geworden. Würde man sie einem Stresstest mit anschließendem Buffet unterziehen, fände man bei vielen Probanden sicher einen typischen Befund: nämlich, dass ihre Kortisolwerte im Verlauf nur wenig dynamisch-flexibel reagieren – ein deutlicher Hinweis auf eine chronische oder zurückliegende Stresserkrankung. Denn das Gehirn hat sich in Fällen wie diesen längst so an die Stressoren gewöhnt, dass es kaum noch reagiert.
    Der Familientherapeutin war bereits vor Jahren aufgefallen, dass Stresserkrankungen häufig mit Depressionen und Übergewicht einhergehen. Der Zusammenhang ist mittlerweile in verschiedenen Studien nachgewiesen worden, Übergewicht gilt inzwischen bereits als Symptom einer möglichen Stresserkrankung. Bereits vor 22 Jahren formulierte Mellin ein Therapiekonzept, das jungen Menschen helfen soll, ihre stressbedingte Übergewichtsproblematik ursächlich zu lösen. Es geht ihr nicht um eine Verhaltenstherapie, um auf das Essverhalten direkt einzuwirken, sondern vielmehr um Strategien, mit denen die Betroffenen psychische Konflikte selbst lösen können. Ungelöste und vor allem lange schwelende Konflikte können zu einem Verhalten führen, das Stressforscher als »Comfort Eating« bezeichnen – essen, um sich besser zu fühlen. Dieser Comfort-Eating-Effekt ist aber nicht nur ein psychologisches Phänomen. Es gibt dafür eine greifbare, zwingende Erklärung: Psychosozialer Dauerstress verändert die Stoffwechselphysiologie des Gehirns. Permanente Stressor-Attacken (z. B. durch dominante Kollegen im Arbeitsumfeld, Mobbing in der Schule usw.) führen dazu, dass das Gehirn stetig und in wachsendem Maße Energie verbraucht und anfordert. Zunächst wird dabei der Brain-Pull verstärkt aktiviert. Dadurch wird der erhöhte Energiebedarf im Gehirn vorwiegend aus den Energiedepots im Körper gedeckt, weshalb Dauerstress in vielen Fällen zu einer Gewichtsabnahme führt.
    Es gibt aber Menschen, deren Stresssystem sich an einen solchen sonst nur schwer zu ertragenden Dauerzustand anpasst oder durch die Überbeanspruchung sogar Schaden nimmt. Bei einem ständig erhöhten Stressniveau verliert der Brain-Pull mittel- oder langfristig irgendwann einen Teil seiner Kompetenz – wie eine Metallfeder, die man überdehnt und die danach ausgeleiert ist.
    Stresssyndrome halten den Energiebedarf des Gehirns hoch. Es verschiebt deshalb seine Energieanforderung weg vom Brain-Pull, hin zum Body-Pull (vgl. Abbildung 3, S. 112). Wenn sich dauergestresste Menschen aber mit ihrem Stresssystem an die Konfliktsituation anpassen und »Comfort Eating« als Bewältigungsstrategie anwenden, wird der erhöhte Hirnbedarf durch vermehrtes Essen gedeckt. Wer so handelt, verspürt einerseits die Entlastung des Stresssystems (Brain-Pull sinkt) – Essen tröstet! Andererseits hat er die Folgen der vermehrten Nahrungsaufnahme zu tragen, nämlich das wachsende Körpergewicht.
    In der Stressforschung hat es sich bewährt, die verursachenden Stressoren (z. B. ein drohender Chef) von den erfolgenden Stressreaktionen (z. B. Anstieg des Blutdrucks beim Mitarbeiter) zu unterscheiden. Es gibt Stresssituationen, die plötzlich kommen und auch schnell wieder

Weitere Kostenlose Bücher