Das egoistische Gen
Ausbeutung Tür und Tor öffnen. Individuen, die kleinere als die durchschnittlichen Gameten produzieren würden, könnten davon profitieren, vorausgesetzt sie könnten sicherstellen, daß ihre kleinen Gameten sich mit extra großen vereinigen. Dies könnte dadurch erreicht werden, daß die kleinen beweglicher gemacht und in die Lage versetzt werden, große Gameten gezielt aufzuspüren. Der Vorteil für ein Individuum, das kleine, schnell bewegliche Gameten herstellt, könnte darin bestehen, daß dieses es sich leisten könnte, eine größere Zahl von Gameten herzustellen, und daß es daher potentiell mehr Kinder haben könnte. Die natürliche Auslese würde die Produktion von Geschlechtszellen begünstigen, die kleiner wären und aktiv darangingen, große Gameten zur Kopulation ausfindig zu machen. So können wir uns die Herausbildung von zwei divergierenden sexuellen „Strategien“ vorstellen. Die eine war die „aufrichtige“ Strategie, die der großen Investition. Diese bahnte automatisch einer „ausbeuterischen“ Strategie der kleinen Investitionen den Weg. Nachdem die Auseinanderentwicklung der beiden Strategien erst einmal begonnen hatte, mußte sie sich unaufhaltsam weiter fortsetzen. Dazwischenliegende mittelgroße Gameten wurden bestraft, denn sie erfreuten sich weder der Vorteile der einen noch der anderen extremen Strategie. Die arglistigen Gameten wurden im Laufe der Evolution immer kleiner und beweglicher. Die aufrichtigen wurden immer größer, um die zunehmend kleinere Investition der ausbeuterischen Geschlechtszellen auszugleichen, und immer unbeweglicher, da die Ausbeuter sowieso immer Jagd auf sie gemacht hätten. Jeder ehrliche Gamet wäre zwar „lieber“ mit einem anderen ehrlichen Gameten verschmolzen. Aber der Selektionsdruck für den Ausschluß der ausbeuterischen Gameten war geringer als der auf diese wirkende Druck, durch die Sperre hindurchzuschlüpfen: Die Ausbeuter hatten mehr zu verlieren, und daher trugen sie im Evolutionskrieg den Sieg davon.
Die ehrlichen Gameten wurden zu Eizellen, die unehrlichen zu Spermien.
Das männliche Geschlecht scheint also aus ziemlich wertlosen Burschen zu bestehen, und unter dem Aspekt des Wohles der Art wäre zu erwarten, daß die männlichen Organismen weniger zahlreich würden als die weiblichen. Da ein einziges Männchen theoretisch genug Spermien erzeugen kann, um einen Harem von 100 Weibchen zu begatten, sollten wir annehmen, daß in Tierpopulationen die Zahl der Weibchen um den Faktor 100 größer wäre als die der Männchen. Anders ausgedrückt heißt dies, daß die Männchen für die Art „entbehrlicher“ und die Weibchen „wertvoller“ sind. Vom Standpunkt der Art als Gesamtheit betrachtet, ist dies natürlich völlig richtig. Um ein extremes Beispiel zu nennen: Bei einer Untersuchung über See-Elefanten waren vier Prozent der männlichen Tiere für 88 Prozent aller beobachteten Kopulationen verantwortlich. In diesem und in vielen anderen Fällen besteht ein großer Überschuß an Junggesellen, die wahrscheinlich niemals in ihrem ganzen Leben eine Chance zur Paarung bekommen werden. Doch diese überschüssigen Männchen führen ein ansonsten normales Leben und verzehren die Nahrungsressourcen der Population mit genauso großem Appetit wie andere Erwachsene. Aus einem am „Wohl der Art“ orientierten Blickwinkel gesehen, ist das eine furchtbare Verschwendung.
Man könnte die Junggesellen als soziale Parasiten betrachten.
Dies ist nur ein weiteres Beispiel für die Schwierigkeiten, mit denen die Theorie der Gruppenselektion zu kämpfen hat. Die Theorie vom egoistischen Gen dagegen erklärt ohne weiteres die Tatsache, daß die Zahl männlicher und weiblicher Individuen sich ungefähr im Gleichgewicht befindet, selbst wenn die Männchen, die sich tatsächlich fortpflanzen, möglicherweise nur einen kleinen Bruchteil der Gesamtpopulation darstellen.
Die Erklärung wurde zuerst von R. A. Fisher geliefert.
Das Problem, wie viele männliche und wie viele weibliche Kinder geboren werden sollen, stellt einen Sonderfall des Problems der Elternstrategie dar. In der gleichen Weise, in der wir erörtert haben, welches die optimale Familiengröße für eine Mutter ist, die den Fortbestand ihrer Gene zu maximieren versucht, können wir auch die optimale Geschlechterverteilung erörtern. Sollte man seine kostbaren Gene lieber Söhnen oder Töchtern anvertrauen? Nehmen wir an, eine Mutter investierte alle ihre Mittel in Söhne und hätte
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