Das egoistische Gen
gerecht ist – so unparteiisch wie das Werfen einer Münze. Wir werden feststellen, daß die Antwort sich von selbst ergibt, sobald wir einmal verstanden haben, warum Organismen überhaupt existieren.
Der Einzelorganismus ist etwas, dessen Existenz die Mehrheit der Biologen als selbstverständlich voraussetzt, wahrscheinlich, weil seine Teile derart einig und als Ganzes dieselbe Absicht verfolgen. Fragen über das Leben sind in der Regel Fragen über Organismen. Biologen fragen, warum Organismen dies tun und warum sie das tun. Häufig fragen sie, warum Organismen Gemeinschaften bilden. Sie fragen nicht – obwohl sie das tun sollten –, warum lebende Materie sich überhaupt zu Organismen organisiert. Warum ist das Meer kein urzeitliches Schlachtfeld freier und unabhängiger Replikatoren mehr?
Warum haben sich die Replikatoren zusammengerottet, um gemeinsam schwerfällige Roboter zu bauen und in ihnen zu wohnen, und warum sind jene Roboter – individuelle Körper, Sie und ich – so groß und so kompliziert?
Es fällt vielen Biologen sogar schwer einzusehen, daß sich hier überhaupt eine Frage stellt. Es ist ihnen einfach zur zweiten Natur geworden, ihre Fragen auf der Ebene des individuellen Organismus zu stellen. Einige Biologen gehen so weit, die DNA als einen Mechanismus anzusehen, der von den Organismen dazu benutzt wird, sich fortzupflanzen, geradeso wie ein Auge eine Vorrichtung ist, die ein Körper zum Sehen benutzt!
Wer dieses Buch gelesen hat, wird erkennen, daß diese Einstellung ein schwerwiegender Irrtum ist. Sie stellt die Wahrheit krachend auf den Kopf. Er wird auch erkennen, daß die alternative Haltung, nämlich die Sicht des Lebens entsprechend der Theorie des egoistischen Gens, ihr eigenes schwieriges Problem mit sich bringt. Dieses Problem – fast das umgekehrte – ist die Frage, warum überhaupt Einzelorganismen existieren, besonders in so großer und auf kohärente Weise zweckmäßiger Form, einer Form, die die Biologen dazu verführt, die Wahrheit auf den Kopf zu stellen. Um unser Problem zu lösen, müssen wir zuerst unseren Geist von alten Ansichten befreien, die stillschweigend den Einzelorganismus als selbstverständlich voraussetzen; andernfalls gehen wir von falschen Grundlagen aus.
Das Mittel, mit dem wir in unserem Kopf aufräumen, ist die Vorstellung, die ich den erweiterten Phänotyp nenne. Wenden wir uns nun diesem Gedanken und seinen Implikationen zu.
Unter phänotypischen Wirkungen eines Gens versteht man gewöhnlich alle Auswirkungen, die es auf den Körper hat, in dem es sitzt. Dies ist die traditionelle Definition. Aber wir werden jetzt sehen, daß wir uns unter den phänotypischen Effekten eines Gens alle Auswirkungen vorstellen müssen, die es auf die Welt hat. Es mag sich herausstellen, daß die Auswirkungen eines bestimmten Gens in der Tat auf die aufeinanderfolgenden Körper beschränkt sind, in denen das Gen sitzt.
Dieser im Einzelfall gegebene Umstand sollte jedoch nicht Teil unserer Definition sein. Denken wir bei alldem daran, daß die phänotypischen Effekte eines Gens die Werkzeuge sind, mit denen es sich selbst in die nächste Generation hinüberhievt.
Ich füge als einzigen neuen Gedanken hinzu, daß die Werkzeuge über die Grenzen des Körpers hinausreichen können.
Was könnte es in der Praxis bedeuten, wenn wir davon sprechen, daß ein Gen einen erweiterten phänotypischen Effekt auf die Welt außerhalb des Körpers hat, in dem es sitzt? Beispiele, die uns sofort einfallen, sind Artefakte wie Biberdämme, Vogelnester und die Gehäuse der Köcherfliegen.
Köcherfliegen sind recht unauffällige, schmutzigbraune Insekten, die die meisten von uns gar nicht bemerken, wenn sie ziemlich unbeholfen über Flüssen fliegen. Bevor sie zu flugfähigen Insekten werden, leben sie längere Zeit als Larven, die auf dem Gewässergrund herumlaufen. Das Leben der Köcherfliegenlarven ist recht gut erforscht. Sie gehören zu den bemerkenswertesten Geschöpfen der Erde. Aus selbstproduziertem Zement und Materialien, die sie am Gewässergrund finden, bauen sie sich mit viel Geschick röhrenförmige Gehäuse.
Solch ein sogenannter Köcher ist ein bewegliches Heim, das die Larve mit sich herumträgt, wie das Haus einer Schnecke oder eines Einsiedlerkrebses, nur daß die Köcherfliegenlarve es selbst baut, statt daß es auf ihr wächst oder sie es findet.
Einige Köcherfliegenarten verwenden Holzstückchen als Baumaterial, andere Teile von abgestorbenen Blättern,
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