Das egoistische Gen
gesagt, daß die Pläne für den Bau eines menschlichen Körpers in 46 Bänden niedergelegt sind. Tatsächlich war dies eine zu große Vereinfachung. Die Wahrheit ist recht eigenartig. Die 46 Chromosomen bestehen aus 23 Chromosomenpaaren. Man könnte sagen, daß in jedem Zellkern zwei alternative Sätze von 23 Bänden mit Bauplänen abgelegt sind. Nennen wir sie Band 1a und Band 1b, Band 2a und Band 2b und so weiter bis hin zu Band 23a und Band 23b. Selbstverständlich sind die Zahlen, die ich zum Bezeichnen der Bände und später der Seiten verwende, rein willkürlich gewählt.
Wir erhalten jedes Chromosom unversehrt von einem unserer beiden Eltern, in dessen Hoden oder Eierstock es zusammengefügt wurde. Nehmen wir einmal an, die Bände 1a, 2a, 3a ... kamen von unserem Vater und die Bände 1b, 2b, 3b ... von unserer Mutter. In der Praxis ist es sehr schwierig, aber theoretisch könnten wir die 46 Chromosomen in jeder einzelnen unserer Zellen mit einem Mikroskop betrachten und die 23, die von unserem Vater, beziehungsweise die 23, die von unserer Mutter kamen, heraussuchen.
Die ein Paar bildenden Chromosomen verbringen nicht ihre ganze Lebensdauer in physischem Kontakt oder wenigstens nahe beieinander. In welchem Sinne bilden sie dann ein Paar?
In dem Sinne, daß jeder ursprünglich vom Vater kommende Band Seite für Seite als eine direkte Alternative zu einem bestimmten, ursprünglich von der Mutter kommenden Band angesehen werden kann. Zum Beispiel „behandeln“ vielleicht Seite 6 von Band 13a und Seite 6 von Band 13b beide die Augenfarbe; vielleicht steht auf der einen „blau“, während die andere „braun“ vorschlägt.
Manchmal sind die beiden alternativen Seiten identisch, in anderen Fällen, wie in unserem Beispiel, sind sie verschieden. Was tut der Körper, wenn sie einander widersprechende „Empfehlungen“ geben? Darauf gibt es verschiedene Antworten. Gelegentlich setzt sich eine Lesart gegenüber der anderen durch. In dem gerade angeführten Beispiel der Augenfarbe würde der Mensch tatsächlich braune Augen haben: Die Anweisungen zur Erzeugung blauer Augen würden beim Bau des Körpers ignoriert werden, doch hindert sie dies nicht daran, an künftige Generationen vererbt zu werden. Ein Gen, das auf diese Weise unbeachtet bleibt, wird als rezessiv bezeichnet. Das Gegenteil eines rezessiven Gens ist ein dominantes Gen. Das Gen für braune Augen ist gegenüber dem Gen für blaue Augen dominant. Ein Mensch hat nur dann blaue Augen, wenn beide Kopien der entsprechenden Seite einstimmig blaue Augen empfehlen. Häufiger allerdings ist, wenn zwei alternative Gene nicht identisch sind, eine Art Kompromiß das Ergebnis – der Körper wird entsprechend einem zwischen beiden Möglichkeiten liegenden Plan oder aber völlig anders gebaut.
Wenn zwei Gene, wie das Gen für braune und das für blaue Augen, um denselben Ort auf einem Chromosom konkurrieren, so heißen sie Allele. Für unsere Zwecke ist das Wort Allel gleichbedeutend mit Rivale. Denken wir uns die Bände mit Bauplänen als Schnellhefter, deren Seiten herausgenommen und ausgetauscht werden können. Jeder Band 13 muß eine Seite 6 haben, aber es gibt mehrere mögliche Seiten 6, die zwischen Seite 5 und Seite 7 in den Ordner passen könnten. Eine mögliche Version sagt „blaue Augen“, eine andere „braune Augen“, und in der gesamten Population mag es noch weitere Versionen geben, die andere Farben vorschlagen, zum Beispiel grün. Vielleicht gibt es auf den in der Population verteilten Chromosomen Nummer 13 ein halbes Dutzend alternative Allele, die sich auf dem unserer Seite 6 entsprechenden Genort befinden. Jeder einzelne Mensch besitzt lediglich zwei Bände, das heißt zwei Chromosomen, Nummer 13. Daher kann er auf dem Platz von Seite 6 höchstens zwei Allele haben. Er kann, wie ein blauäugiger Mensch, zwei Kopien desselben Allels besitzen oder zwei beliebige Allele aus dem halben Dutzend Alternativen, die in der gesamten Population zur Verfügung stehen.
Natürlich kann niemand tatsächlich hingehen und sich seine Allele aus einem der ganzen Bevölkerung zur Verfügung stehenden Reservoir heraussuchen. Zu jedem beliebigen Zeitpunkt sind alle Gene im Innern individueller Überlebensmaschinen eingeschlossen. Wir erhalten unsere Gene bei der Empfängnis in einer bestimmten Anzahl zugeteilt und können keinen Einfluß auf die Auswahl ausüben. In einem bestimmten Sinne allerdings lassen sich, langfristig betrachtet, die Gene der
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