Das egoistische Gen
würde, beide nachzuahmen, würde bald gefressen werden, aber derartige „Zwischenexemplare“ werden gar nicht erst geboren. Gerade so, wie jedes Individuum entweder definitiv männlich oder definitiv weiblich ist, imitiert es entweder die eine oder die andere ungenießbare Art.
Einer dieser Schmetterlinge imitiert vielleicht Art A, während sein Bruder Art B gleicht.
Es sieht so aus, als bestimme ein einziges Gen, ob ein Individuum Art A oder Art B imitiert. Doch wie kann ein einzelnes Gen für alle mannigfaltigen Aspekte der Mimikry – Farbe, Gestalt, Fleckenmuster, Flugrhythmus – bestimmend sein?
Die Antwort lautet, daß ein einzelnes Gen im Sinne eines Cistrons dies wahrscheinlich nicht kann. Doch das sich aus Inversionen und anderen zufälligen Umgruppierungen von genetischem Material ergebende unbewußte und automatische „Überarbeiten“ hat dazu geführt, daß eine große Gruppe früher getrennter Gene nunmehr in enger Koppelung auf einem Chromosom zusammengefunden hat. Diese gesamte Gengruppe benimmt sich wie ein einzelnes Gen – nach unserer Definition ist sie in der Tat ein einzelnes Gen –, und sie besitzt ein „Allel“, das in Wirklichkeit eine andere Gengruppe ist. Eine Gengruppe enthält die Cistrons für Mimikry von Art A, die andere diejenigen, die für das Imitieren von Art B verantwortlich sind. Jede dieser Gengruppen wird so selten durch Crossing-Over aufgespalten, daß in der Natur niemals ein dazwischenliegender Schmetterling gesehen wird; beim Züchten großer Mengen von Schmetterlingen im Labor treten solche Exemplare jedoch gelegentlich auf.
Ich verwende das Wort Gen in der Bedeutung einer genetischen Einheit, die klein genug ist, um eine Vielzahl von Generationen zu überdauern und in Form vieler Kopien überall verbreitet zu sein. Dies ist keine starre Alles-Oder-Nichts-Definition, sondern eher eine Art relativer Definition, wie die von „groß“ oder „alt“. Je wahrscheinlicher es ist, daß ein Chromosomenabschnitt durch Crossing-Over aufgespalten oder durch Mutationen verschiedener Art verändert wird, um so weniger qualifiziert dieser sich für die Bezeichnung Gen in dem Sinne, in dem ich sie verwende. Ein Cistron qualifiziert sich vermutlich dafür, aber auch größere Einheiten. Ein Dutzend Cistrons können so dicht nebeneinander auf einem Chromosom liegen, daß sie für unsere Zwecke eine einzige langlebige Einheit bilden. Die Gengruppe für die Mimikry der Schmetterlinge ist ein gutes Beispiel. Wenn die Cistrons einen Körper verlassen und in den nächsten eintreten, wenn sie für die Reise in die nächste Generation an Bord einer Samen- oder Eizelle gehen, so stellen sie wahrscheinlich fest, daß sich auf dem kleinen Schiff auch ihre nächsten Nachbarn von der vorigen Reise befinden, alte Schiffskameraden, mit denen sie auf der langen Odyssee gesegelt sind, seit sie in den Körpern lang vergangener Ahnen zum ersten Mal gebildet wurden. Benachbarte Cistrons auf demselben Chromosom bilden eine eng verbundene Truppe von Reisegefährten, denen es – wenn es wieder einmal Zeit für die Meiose ist – nur selten nicht gelingt, an Bord desselben Schiffes zu gelangen.
Wollte man genau sein, so dürfte dieses Buch weder Das egoistische Cistron noch Das egoistische Chromosom heißen, sondern eher Das etwas egoistische große Stückchen Chromosom und das sogar noch egoistischere kleine Stückchen Chromosom.
Doch das ist ein – gelinde gesagt – nicht gerade spannender Titel, daher definiere ich ein Gen als ein kleines Stückchen Chromosom, das potentiell viele Generationen überdauert, und nenne das Buch Das egoistische Gen.
Wir sind jetzt wieder dort angelangt, wo wir am Ende des ersten Kapitels stehengeblieben waren. Dort hatten wir gesehen, daß man bei jedem Gebilde, welches die Bezeichnung Grundeinheit der natürlichen Auslese verdient, Egoismus voraussetzen muß. Wir hatten festgestellt, daß einige Leute die Art als die Einheit der natürlichen Selektion betrachten, andere die Population oder Gruppe innerhalb der Art und wieder andere das Individuum. Ich hatte gesagt, ich zöge es vor, das Gen als die grundlegende Einheit des Eigennutzes anzusehen.
Nunmehr habe ich das Gen so definiert, daß ich geradezu recht behalten muß!
Möglichst allgemein formuliert, bedeutet natürliche Selektion den unterschiedlichen Überlebenserfolg von Gebilden.
Einige Gebilde leben und andere sterben; damit aber dieser selektive Tod irgendeinen Einfluß auf die Welt
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