Das egoistische Gen
Zeitlang zusammen in einer geschlossenen Gruppe gehalten werden, so wird sich wahrscheinlich eine Art Dominanzhierarchie herausbilden. 6 Ein Beobachter kann die einzelnen Tiere nach ihrem Status einordnen. Rangniedere Individuen geben gewöhnlich höherrangigen Individuen gegenüber nach. Dabei besteht keine Notwendigkeit zu der Annahme, daß die Individuen sich gegenseitig erkennen. Es geschieht weiter nichts, als daß bei Individuen, die zu siegen gewöhnt sind, die Wahrscheinlichkeit des Sieges noch größer wird, wogegen Individuen, die zu verlieren gewöhnt sind, mit ständig wachsender Wahrscheinlichkeit verlieren. Selbst wenn die Individuen zu Beginn völlig zufällig gewönnen oder verlören, würden sie versuchen, sich selbst in eine Rangfolge einzuordnen. Dies hat nebenbei bemerkt zur Folge, daß die Zahl ernster Kämpfe in der Gruppe allmählich abnimmt.
Ich muß den Ausdruck „eine Art Dominanzhierarchie“ benutzen, weil viele Leute den Begriff Dominanzhierarchie für Fälle reservieren, bei denen sich die Tiere individuell erkennen. In diesen Fällen ist die Erinnerung an vorangegangene Kämpfe nicht so sehr allgemeiner, sondern vielmehr spezifischer Natur. Grillen erkennen einander nicht individuell, aber Hühner und Affen tun dies sehr wohl. Denken wir uns, ein Affe sei in der Vergangenheit von einem anderen besiegt worden, dann ist es wahrscheinlich, daß dieser ihn auch in Zukunft besiegen wird. Die beste Strategie für ein Individuum ist die, sich einem anderen gegenüber, von dem es früher einmal besiegt wurde, relativ taubenartig zu verhalten. Läßt man eine Schar Hühner, die niemals zuvor zusammengetroffen sind, aufeinander los, so gibt es gewöhnlich zahlreiche Kämpfe. Nach einer Weile nimmt die Zahl der Kämpfe ab, allerdings nicht aus demselben Grund wie bei den Grillen. Vielmehr lernt jedes Huhn, wo „sein Platz“ jedem anderen Individuum gegenüber ist. Dies ist nebenbei gesagt gut für die Gruppe als Gesamtheit. Als Zeichen dafür hat man festgestellt, daß in etablierten Hühnergruppen, in denen heftige Kämpfe selten sind, die Eierproduktion höher ist als in Hühnergruppen, deren Zusammensetzung ständig geändert wird und in denen infolgedessen Kämpfe häufiger sind. Biologen sprechen häufig davon, der biologische Vorteil oder die biologische „Funktion“ der Rangordnungen läge darin, die offene Aggression in der Gruppe zu mildern. So ausgedrückt, ist dies jedoch falsch. Von einer Dominanzhierarchie per se kann man nicht sagen, daß sie eine Funktion im evolutionären Sinne hat, da es sich um die Eigenschaft einer Gruppe, nicht eines Individuums handelt. Funktionen kann man nur den individuellen Verhaltensmustern zuschreiben, die sich, auf der Ebene der Gruppe betrachtet, in Form von Dominanzhierarchien manifestieren. Noch besser ist es jedoch, auf das Wort „Funktion“ ganz und gar zu verzichten und Dominanzhierarchien als Ausfluß evolutionär stabiler Strategien bei asymmetrischen Auseinandersetzungen mit individuellem Erkennen und spezifischer Erinnerung zu verstehen.
Bisher haben wir uns mit Auseinandersetzungen zwischen Artgenossen befaßt. Wie sieht es nun mit Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Arten aus? Wie wir bereits festgestellt haben, sind Angehörige verschiedener Arten weniger unmittelbare Konkurrenten als Angehörige derselben Art.
Aus diesem Grunde sollten wir zwischen ihnen weniger Kontroversen um Ressourcen erwarten, und unsere Erwartung bestätigt sich. Zum Beispiel verteidigen Rotkehlchen ihre Territorien gegenüber anderen Rotkehlchen, nicht aber gegenüber Kohlmeisen. Man kann eine Karte mit den Revieren der einzelnen Rotkehlchen in einem Wald zeichnen und in diese Karte zusätzlich die Territorien einzelner Kohlmeisen eintragen. Die Reviere der beiden Arten überschneiden sich völlig wahllos.
Sie könnten sich genausogut auf verschiedenen Planeten befinden.
Doch geraten die Interessen von Individuen verschiedener Arten auf andere Weise scharf miteinander in Konflikt. Beispielsweise will ein Löwe den Körper einer Antilope fressen, doch die Antilope hat ganz andere Pläne für ihren Körper.
Dies wird normalerweise nicht als Konkurrenz um eine Ressource angesehen, aber logisch betrachtet ist schwer einzusehen warum nicht. Die Ressource ist in diesem Fall Fleisch.
Die Gene des Löwen „wollen“ das Fleisch als Nahrung für ihre Überlebensmaschine. Die Antilopengene wollen es als arbeitende Muskeln und Organe für ihre
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