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Das egoistische Gen

Titel: Das egoistische Gen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dawkins
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Überlebensmaschine.
    Diese beiden Verwendungszwecke schließen sich gegenseitig aus; wir haben es daher mit einem Interessenkonflikt zu tun.
    Die Angehörigen der eigenen Art bestehen ebenfalls aus Fleisch. Warum ist Kannibalismus relativ selten? Wie wir im Fall der Lachmöwe gesehen haben, fressen erwachsene Tiere gelegentlich die Jungen ihrer eigenen Art. Doch sieht man niemals ausgewachsene Fleischfresser andere erwachsene Individuen ihrer eigenen Art aktiv verfolgen in der Absicht, sie zu verspeisen. Warum nicht? Wir sind immer noch so sehr daran gewöhnt, in Begriffen der Arterhaltungsthese der Evolutionstheorie zu denken, daß wir häufig vergessen, völlig vernünftige Fragen zu stellen wie: „Warum jagen Löwen keine anderen Löwen?“ Eine weitere gute Frage, die zu einer selten gestellten Art von Fragen gehört, lautet: „Warum laufen Antilopen vor Löwen davon, statt sich zu wehren?“
    Löwen jagen deshalb keine Löwen, weil dies für sie keine ESS wäre. Eine Kannibalenstrategie wäre instabil, und zwar aus demselben Grund wie die Falkenstrategie in unserem Beispiel: Die Gefahr des Zurückschlagens wäre zu groß. Diese Gefahr ist bei Auseinandersetzungen zwischen Angehörigen verschiedener Arten geringer, und das wiederum ist der Grund dafür, daß so viele Beutetiere davonlaufen, statt sich zu wehren.
    Ursprünglich ergibt sich dies vermutlich aus der Tatsache, daß beim Aufeinandertreffen zweier Tiere, die verschiedenen Arten angehören, die Asymmetrie von vornherein größer ist als bei Angehörigen derselben Art. Wann immer bei einer Auseinandersetzung eine starke Asymmetrie besteht, ist es wahrscheinlich, daß die evolutionär stabilen Strategien bedingte, von der Asymmetrie abhängige Strategien sind. Bei Konflikten zwischen Angehörigen verschiedener Arten werden sich – weil es so viele mögliche Asymmetrien gibt – mit großer Wahrscheinlichkeit analoge Strategien zu „Wenn du kleiner bist, lauf fort; bist du größer, greif an“ herausbilden. Löwen und Antilopen haben durch die evolutionäre Divergenz, welche die ursprüngliche Asymmetrie der Auseinandersetzung ständig weiter verschärft hat, eine Art stabilen Zustand erreicht. Sie haben es in der Kunst des Jagens beziehungsweise des Davonlaufens außerordentlich weit gebracht. Eine durch Mutation entstandene Antilope, die Löwen gegenüber die Strategie „Behaupte dich und kämpfe“ anwenden wollte, wäre weniger erfolgreich als rivalisierende Antilopen, die am Horizont verschwinden.
    Ich könnte mir vorstellen, daß wir eines Tages auf die Entwicklung des Konzepts der ESS als auf einen der bedeutendsten Fortschritte in der Evolutionstheorie seit Darwin zurückblicken werden. 7 Dieses Konzept ist überall dort anwendbar, wo wir einen Interessenkonflikt vorfinden, und das heißt fast überall.
    In der Verhaltensforschung hat man sich angewöhnt, über etwas zu reden, das man als „soziale Organisation“ bezeichnet. Zu oft wird die gesellschaftliche Organisation einer Art wie ein eigenständiges Gebilde mit seinem eigenen biologischen „Vorteil“ behandelt. Ein Beispiel dafür, das ich bereits genannt habe, ist die „Dominanzhierarchie“. Ich glaube, daß hinter einer großen Zahl von Aussagen, die Biologen über die soziale Organisation machen, Auffassungen verborgen sind, die auf dem Gruppenselektionsdenken aufbauen. Maynard Smiths Konzept der ESS versetzt uns zum ersten Mal in die Lage, deutlich zu erkennen, auf welche Weise eine Ansammlung unabhängiger egoistischer Organismen wie ein einziges organisiertes Ganzes aussehen kann. Meiner Meinung nach gilt dies nicht nur für die soziale Organisation innerhalb einer Art, sondern auch für „Ökosysteme“ sowie „Gemeinschaften“, die aus vielen Arten bestehen. Langfristig gesehen rechne ich damit, daß das Konzept der ESS die ökologische Wissenschaft revolutionieren wird.
    Auch auf eine Frage, die wir in Kapitel 3 zurückgestellt hatten, können wir dieses Konzept anwenden. Ausgangspunkt war das Bild der (die Gene in einem Körper darstellenden) Ruderer in einem Boot, die guten Teamgeist brauchen. Gene werden selektiert, nicht weil sie für sich genommen „gut“ sind, sondern weil sie vor dem Hintergrund der anderen Gene im Genpool gut arbeiten. Ein gutes Gen muß sich mit den anderen Genen, mit denen es sich in eine lange Reihe aufeinanderfolgender Körper zu teilen hat, vertragen und diese ergänzen. Ein Gen für Zähne zum Zermahlen von Pflanzen ist im Genpool einer

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