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Das einzige Kind

Das einzige Kind

Titel: Das einzige Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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geworfen, aber das große vorhanglose Panoramafenster mit Ausblick über die ganze Stadt hatte ihm angst gemacht. Er hatte kurz mit dem Gedanken gespielt, den Fernseher vorsichtig in die Küche zu bugsieren, aber dann hatte sich herausgestellt, daß das Antennenkabel nicht lang genug war.
    Agnes war tot. Da war er sich ganz sicher, obwohl er vorher noch nie eine Tote gesehen hatte. Sie hatte einen so seltsamen Gesichtsausdruck gehabt, und ihre Augen waren offen gewesen.
    Er hatte sich immer vorgestellt, daß man vor dem Sterben die Augen zumacht.
    Wenn er doch bloß seine Mutter anrufen könnte … In der Diele stand ein Telefon, in sicherer Entfernung von den Fenstern. Es funktionierte auch, er hatte das Freizeichen gehört.
    Aber bei seiner Mutter wimmelte es sicher nur so von Polizei.
    Im Fernsehen wurde ja immer gezeigt, wie die zu den Wohnungen von Leuten fuhren, die etwas verbrochen hatten. Da lungerten sie im Gebüsch herum, und PENG! schlugen sie zu, wenn man kam. Und bestimmt hörten sie auch das Telefon ab.
    Er überlegte noch eine Weile und fragte sich, wo sie wohl das Tonbandgerät stehen hatten, neben dem immer jemand mit Kopfhörern saß, um ja nichts zu überhören. Bei der Nachbarin vielleicht. Die war eine blöde Kuh. Oder im Keller. Oder vielleicht hatten sie sogar einen von diesen großen Kastenwagen ohne Fenster und mit ganz vielen technischen Geräten.
    Ehe er mit seinen Überlegungen zu einem Ende kam, schlief er ein. Obwohl es noch immer früher Nachmittag war. Und obwohl er einsamer war denn je und schreckliche Angst hatte.
    Ich habe mich über das Jugendamt gewundert. Sie kannten mich, und irgendwo in ihren riesigen Aktenschränken mußte ich doch liegen. Wenn ein seltenes Mal die Türglocke ging – ein Vertreter vielleicht, oder eher noch eine Bande von Rotzbengeln, die unter Geschrei und Gebrüll verschwand, wenn 73
    ich mich endlich blicken ließ –, war ich vor Angst wie gelähmt.
    Ich wäre am liebsten mäuschenstill sitzen geblieben, so als wäre ich überhaupt nicht zu Hause. Aber ich wußte ja, daß sie ihre Methoden hatten und daß mir das Versteckspiel nicht helfen würde. Und nie stand jemand vom Jugendamt vor der Tür.
    Als die Leute vom Kindergarten mich eines Nachmittags zu einem vertraulichen Gespräch baten, war ich mir allerdings sicher. Ich ging meine Fluchtmöglichkeiten durch. Das dauerte nicht lange, ich hatte nämlich keine. Meine Mutter begriff nichts, und ihr Gequengel ging mir auf die Nerven. Ich glaube, sie kann das Kind überhaupt nicht leiden, das kann ja sonst auch niemand. Außer ihr hatte ich seit der Geburt des Jungen kaum einen Menschen gesehen. Und die lag schon fünf Jahre zurück.
    Aber auch zu dieser Besprechung tauchte das Jugendamt nicht auf. Ich traf nur die Kindergartenleiterin, und die hatte mich immer anständig behandelt. Jetzt war sie ernst und schien sich darüber zu ärgern, daß ich den Jungen bei mir hatte. Aber wo hätte ich ihn denn lassen sollen? Ich sagte nichts.
    Er hatte an diesem Tag das Kühlschrankkabel

durchgeschnitten. Und das hätte für ihn gefährlich werden können. Es hätte natürlich ein blöder Einfall sein können. Ein dummer Streich. Aber es fügte sich in ein destruktives Muster ein, meinte sie, und er sei zu anstrengend für sie. Er spiele nicht mit den anderen Kindern. Er hindere sie am Spielen. Er kenne keine Grenzen. Und sei entsetzlich aktiv.
    Ich sagte noch immer nichts. Ich hatte nur einen weißen, schmerzenden Klumpen im Kopf, und das einzige, was mir klar bewußt war, war meine Angst, den Kindergartenplatz einzubüßen. Aber ich sagte nichts.
    Sie verstand mich vielleicht, denn plötzlich wurde sie freundlicher. Sie hätten um Hilfe gebeten, erzählte sie. Fünfzehn Stunden Betreuung die Woche. BUP und PPT und andere 74
    Abkürzungen, von denen ich keine Ahnung hatte, würden eingeschaltet werden. Aber sie sagte kein Wort vom Jugendamt.
    Nach und nach begriff ich das Wichtigste: Mein Junge durfte weiter in den Kindergarten gehen. Mein Kopf wurde ein bißchen klarer, und ich konnte wieder atmen. Ich hatte Bauchweh.
    Am nächsten Tag fand ich auf dem Sozialamt eine Broschüre.
    Es ging darin um MCD. Ich blätterte eher aus Langeweile darin herum, weil ich die anderen Wartenden nicht ansehen wollte.
    Aber dann fiel mein Blick auf etwas. Auf eine Checkliste. Dinge, die anzeigen, daß ein Kind einen Gehirnschaden hat, an dem niemand schuld ist.
    Und alles traf auf Olav zu! Seine Unruhe, die gewaltige Aktivität,

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