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Das einzige Kind

Das einzige Kind

Titel: Das einzige Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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sein geringes Sprachvermögen, obwohl er doch auch nicht dümmer zu sein schien als andere Kinder … Ich hatte das Gefühl, über mein Kind zu lesen. Mit seinem Gehirn stimmte etwas nicht. Und niemand hätte daran etwas ändern können. Ich hatte nichts damit zu tun. Ich nahm drei Exemplare dieser Broschüre mit und verspürte eine Art Hoffnung.

    »Es wäre wahrscheinlich kein großes Problem gewesen, an einer übermüdeten Nachtwache vorbeizuschleichen, vor allem, wenn sie mit dem Rücken zur Tür vor dem Fernseher saß. Und einfach hochzugehen und wieder runterzukommen. Wenn die Tür offen war.«
    »Oder wenn der Mörder einen Schlüssel hatte. Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß der Betreffende sich im Haus ausgekannt haben muß. Er muß gewußt haben, wo die
    Nachtwache sich normalerweise aufhält und wer im ersten Stock welches Zimmer hat.«
    Billy T. war mit ihr nach Hause gegangen. Sie saßen auf einem niedrigen amerikanischen Sofa, und der Tisch aus Kiefernholz war mit ihren langen Beinen bedeckt. Das Zimmer 75
    war nicht groß, und es wurde auch durch die Bücherregale, die eine Wand vollständig verdeckten, nicht größer.
    »Außerdem«, fuhr Hanne fort und trank einen Schluck Tee, der aber noch zu heiß war, »außerdem muß er gewußt haben, daß Agnes gerade an diesem Abend dort war. Sie war doch gar nicht im Dienst.«
    »Nein, wir wissen ja nicht, ob der Mörder wirklich morden wollte. Vielleicht hatte er etwas anderes vor und hatte das Messer nur zur Sicherheit bei sich.«
    »Was kann er denn in dem Büro gesucht haben? Das Fleißige Lieschen?«
    »Immerhin waren die Schubladen abgeschlossen, darin kann schon irgend etwas gewesen sein. Auch wenn sie nicht aufgebrochen waren. Übrigens, was ist mit dem Schlüssel, erinnerst du dich an den?«
    Hanne Wilhelmsen runzelte die Stirn und legte den Kopf ein wenig schräg.
    »Ja«, rief sie. »Der Schlüssel, der Maren Kalsvik zufolge unter dem Blumentopf liegen sollte! Sie war ganz überrascht, als er verschwunden war. Weißt du, wo der steckt?«
    »Den hat die Technik eingesackt. Sie haben ihn auf Fingerabdrücke untersucht. Ohne großen Erfolg.«
    »War er abgewischt worden?«
    »Muß nicht sein. Bei so einem kleinen Schlüssel reicht eine zufällige Berührung, und schon ist nichts mehr zu holen. Wir wissen also nicht, ob der Mörder die Schubladen untersucht hat.
    Es waren Unterlagen darin, einige psychologische Berichte und ein paar völlig belanglose Notizen von ihr. Einkaufslisten, Merkzettel, solcher Kram.«
    »Aber wenn jemand etwas in den Schubladen gesucht hat, dann muß dieser Jemand gewußt haben, wo der Schlüssel versteckt war.«
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    »Also suchen wir in erster Linie nach jemandem, der sich im Heim gut auskennt«, sagte Billy T. »Der damit rechnen mußte, daß Agnes dasein würde, und der sie entweder umbringen wollte oder fand, daß ihm nichts anderes übrigblieb, wenn er sich das Gewünschte aus ihrem Büro holen wollte.«
    »That pretty much sums it up«, sagte Hanne nachdrücklich, und dann stand ihre Lebensgefährtin, eine blonde, fast schmächtige Frau in der Tür.
    »Billy T.! Wie nett! Bleibst du zum Essen? Du bist ja vielleicht braun geworden!«
    Cecilie Vibe beugte sich über den Mann auf dem Sofa und küßte ihn auf die Wange.
    »Ich kann doch ein Essen bei den zwei schönsten Frauen in der Stadt nicht ablehnen, meine Güte«, antwortete er und grinste.
    Er ging erst kurz vor Mitternacht nach Hause.
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    Agnes Vestaviks Mann war am 8. Mai 1945 geboren. Aber er sah weder glücklich noch besonders friedlich aus. Er hatte ein Gesicht, an das Billy T. sich nur mit Mühe erinnern würde: einen mittelgroßen Mund unter einer mittelkleinen Nase unter mittelblauen Augen. Sein leicht mißmutiger Gesichtsausdruck konnte natürlich von seiner Situation herrühren: vor nur zwei Tagen war seine Frau brutal ermordet worden, und nun wurde er von der Polizei verhört. Andererseits konnte diese Miene auch sein ständiger Ausdruck sein.
    Er war etwa eins achtzig und steckte die Familienkost offenbar besser weg als seine Frau. Er war fast mager. Er war so angezogen, wie es sich für den Geschäftsführer in einem Laden für Herrenmoden gehört. Graue Hosen aus dünner Wolle, weißes Hemd und diskreter dunkelblauer Schlips unterm Jackett mit Pepitamuster. Tiefe Geheimratsecken, aber noch immer mit beeindruckend vollem Haar.
    »Ich weiß, wie schmerzlich das für Sie ist«, Billy T. sagte den auswendig gelernten Spruch auf, »aber Sie

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