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Das einzige Kind

Das einzige Kind

Titel: Das einzige Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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verstehen sicher, daß wir uns ein Bild von der Lage machen müssen.«
    Das alles hörte sich seltsam an; die gewählte Sprache bildete einen schrillen Kontrast zum Aussehen der kurzgeschorenen, fast beängstigenden Gestalt in Flanellhemd und Sporenstiefeln.
    Der Mann ließ sich nichts anmerken. »Ich verstehe, ich verstehe«, murmelte er ungeduldig und fuhr sich dabei mit einer schmalen Hand mit einem noch schmaleren Trauring übers Gesicht. »Bringen wir es hinter uns.«
    »Wie geht es Ihren Kindern?«
    »Amanda versteht es noch nicht. Die Jüngste. Für die beiden Älteren ist es sehr schwer.«
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    Jetzt standen ihm Tränen in den Augen. Vielleicht um seinetwillen.
    Vielleicht, weil die trauernden Kinder erwähnt worden waren.
    Er riß die Augen auf, um die Tränen zurückzuhalten, und schüttelte energisch den Kopf.
    »Ich begreife nicht …«
    »Nein, ein solcher Schicksalsschlag ist auch unbegreiflich.«
    Billy T. nahm seine Hände von der Tastatur des PC. Endlich hatte das Computerzeitalter immerhin Teile der Osloer Polizei eingeholt.
    »Fangen wir mit den einfachsten Fragen an«, sagte er und bot dem Mann eine Tasse Kaffee an. Der lehnte dankend ab.
    »Wann haben Sie sich kennengelernt?«
    »Das weiß ich nicht mehr genau. Meine jüngere Schwester war mit Agnes befreundet. Aber unsere Beziehung begann erst, als sie erwachsen war. Diese Art von Beziehung, meine ich.«
    Er sah ein wenig verwirrt aus, und Billy T. lächelte beruhigend.
    »Alles klar. Und wann haben Sie geheiratet?«
    »1972. Agnes war zweiundzwanzig und arbeitete schon in der Fürsorge. Sie hat immer mit Kindern gearbeitet. Ich war …
    ungefähr siebenundzwanzig. Aber wir waren ziemlich lange verlobt. Auf jeden Fall ein Jahr. Petter wurde dann 1976
    geboren, Joachim 78. Amanda kam im Februar 91 dazu.«
    »Ein echter Nachkömmling also.«
    »Ja, aber sehr geplant.« Jetzt lächelte der Mann zum erstenmal, wenn auch sehr schwach und ohne daß das Lächeln seine Augen erreicht hätte.
    »Eheprobleme?«
    Billy T. fühlte sich nicht wohl in seiner Haut, er tat seine Pflicht. Der Mann hatte sicher mit dieser Frage gerechnet, er 79
    seufzte tief und nahm gewissermaßen Anlauf, indem er sich aufrichtete.
    »Nicht mehr als andere, nehme ich an. Wir hatten eben gute und weniger gute Zeiten. Man langweilt sich auf die Dauer ein bißchen, das geht wohl allen so. Aber wir hatten die Kinder, wir hatten das Haus, gemeinsame Freunde und das alles. In letzter Zeit war es wohl … nicht so ganz gut. Sie hatte Probleme bei der Arbeit, glaube ich, aber Genaueres weiß ich nicht. Und ich habe wohl nicht immer genug Rücksicht auf sie genommen. Ich weiß nicht so recht …«
    Jetzt konnten seine Augen die Tränen nicht mehr halten. Er versuchte krampfhaft, sich zusammenzureißen, und das verursachte ein lautes, fast schnarchendes Schluchzen. Billy T.
    ließ ihm die Zeit, die er brauchte, um ein Taschentuch hervorzuziehen. Es war elegant, maskulin und frisch gebügelt.
    Er schneuzte sich heftig und preßte das Taschentuch nacheinander energisch auf beide Augen.
    »Wir hatten nicht sehr oft Streit«, sagte er schließlich. »Es war eher so, daß wir nicht miteinander geredet haben. Sie war so weit weg und schrecklich reizbar. An manchen Abenden fand ich das so auffällig, daß ich die Wechseljahre dafür verantwortlich gemacht habe. Und dabei war sie doch erst fünfundvierzig.«
    Er blickte den Polizisten verständnissuchend an, und der schien ihn zu verstehen.
    »Frauen können wirklich schwierig sein«, bestätigte Billy T.
    mitfühlend. »Mit oder ohne Wechseljahre. Wollte sie sich scheiden lassen?«
    Etwas im Gesicht des Mannes verschloß sich. Er faltete sein Taschentuch ordentlich zusammen und steckte es in die Brusttasche. Dann räusperte er sich, setzte sich anders hin und blickte seinem Gegenüber direkt in die Augen.
    »Wer hat das behauptet?«
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    Billy T. hob abwehrend die Hand.
    »Niemand. Niemand hat das behauptet. Ich frage einfach nur.«
    »Nein, wir wollten uns nicht scheiden lassen.«
    »Aber war je davon die Rede? Hat sie es mal zur Sprache gebracht?«
    »Nein.«
    »Nein?«
    »Ja. Nein.«
    »Hat sie die Möglichkeit einer Scheidung nie erwähnt? Hat sie über zwanzig Jahre Ehe mit all den guten und schlechten Zeiten diese Möglichkeit kein einziges Mal erwähnt?«
    »Nein, das hat sie nicht.«
    »Na gut.«
    Billy T. gab nach und öffnete eine Schreibtischschublade.
    Darin sah es ziemlich chaotisch aus, aber er hatte bald einen DIN A4-Bogen

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