Das einzige Kind
besonders kritischen Zeitpunkt im Heim gewesen war, hatte geleugnet, daß Agnes über seinen pflichtvergessenen Umgang mit den Geldern für das Heim informiert gewesen war. Und hatte obendrein die Papiere aus der Schublade der Heimleiterin entfernt. Jetzt schien er auch noch bereit, auf die Knie zu fallen und um Hilfe zu flehen.
»Warum hast du gelogen, Terje? Hattest du kein Vertrauen zu mir?«
Sein Blick ließ ihre Augen los und wanderte nach unten. Dann riß er sich zusammen und starrte auf einen Punkt, der zwanzig Zentimeter über ihrem Kopf lag. So blieb er sitzen, die Armlehnen umklammernd wie beim Zahnarzt. Er gab keine Antwort.
»Ich will sofort wissen, was passiert ist. Wollte Agnes an dem Morgen mit dir über die Unterschlagungen sprechen? Hatte sie 94
die Kollegenberatungen deshalb angesetzt? Hat sie dir die Papiere gezeigt?«
»Nein«, flüsterte er schließlich. »Nein, sie hat mir die Papiere nicht gezeigt. Sie hat nur gesagt, daß sie bestimmte Unregelmäßigkeiten entdeckt hatte, und sie war enttäuscht. Sie hat mit Papieren gewinkt, und ich wußte, daß die mit mir zu tun hatten. Sie hat mich gebeten …«
Jetzt zog er die Füße auf den Sesselsitz und preßte die Augen gegen die Knie, wie ein Kind oder eher noch wie ein übergroßer Embryo. Als er weitersprach, war seine Stimme undeutlich und nur schwer zu verstehen.
»Ich sollte einen schriftlichen Bericht abliefern, ehe sie eine Entscheidung fällen wollte. Und den wollte sie am nächsten Tag haben. Also an dem Tag nachdem sie … nach ihrem Tod.«
Plötzlich stellte er die Füße wieder auf den Boden. Er weinte nicht, sondern schnitt Grimassen, wie Maren sie noch nie gesehen hatte. Immer wieder jagte ein blitzschnelles Zucken über seinen Mund, und seine Augen schienen fast in seinem Kopf zu verschwinden. Für einen Moment hatte sie wirklich Angst!
»Terje! Terje, reiß dich zusammen!«
Sie sprang auf und setzte sich auf den Tisch, der zwischen ihnen stand. Sie versuchte, seinen Arm zu nehmen, aber er wollte die Armlehne nicht loslassen. Deshalb legte sie ihm die rechte Hand auf den Oberschenkel. Er fühlte sich unnatürlich heiß an.
»Ich werde nichts sagen. Aber ich will wissen, was passiert ist.
Das mußt du doch verstehen. Damit ich der Polizei nichts Falsches erzähle.«
Terjes Augen wurden klarer. Er atmete ruhiger, und seine Fingerknöchel waren nicht mehr ganz so kreideweiß.
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»Ich wollte nur wissen, wieviel sie wußte. Vielleicht hatte sie ja nur einen Bruchteil herausgefunden. Und das meiste hatte ich doch schon wieder in Ordnung gebracht. Ich wollte … es war schon clever von ihr, daß sie zuerst meine Version hören wollte!«
»Bist du sicher, daß sie tot war, als du gekommen bist?«
»Sicher?«
Jetzt starrte er ihr ungläubig in die Augen.
»Es steckte ein riesiges Messer zwischen ihren
Schulterblättern, und sie atmete nicht mehr. Das nenne ich tot.«
»Aber hast du dich davon überzeugt? Hast du ihr den Puls gefühlt, hast du an Wiederbelebungsmaßnahmen gedacht?«
»Ich habe sie nicht angerührt. Natürlich habe ich sie nicht angerührt. Ich stand unter Schock. Und als ich mich ein bißchen gefaßt hatte, war mein einziger Gedanke, die Papiere an mich zu nehmen und zu machen, daß ich wegkam.«
»War die Schublade offen?«
»Nein, sie war abgeschlossen. Aber der Schlüssel lag an seinem Versteck. Unter dem Blumentopf.«
»Das hast du auch gewußt?«
Sie wirkte überrascht.
»Ja, schon seit einigen Jahren. Ich bin einmal bei ihr hereingeplatzt. Blödes Geheimversteck. Da würde man doch zuallererst nachsehen. Hast du es gewußt?«
Sie gab keine Antwort, sondern stand auf und trat wieder ans Fenster. Die Dunkelheit hatte sich wie ein klebriger Teppich über den Garten gesenkt, nasse weiße Flocken bildeten ein unregelmäßiges Muster vor dem grauschwarzen Hintergrund.
Maren streifte sich den Kittelärmel nach oben – mit einer Handbewegung, die bewies, daß sie in diesem Kittel wohnte –
und stellte fest, daß jetzt Zeit für die Kinderstunde sei.
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»Die Polizei würde dir nicht glauben«, sagte sie zu seinem Spiegelbild in der Fensterscheibe. »Und mir fällt es auch nicht leicht. So, wie du geschwindelt hast.«
»Gelogen«, korrigierte er tonlos. »Das verstehe ich. Ich kann nicht verlangen, daß du mir glaubst. Aber es ist so, Maren. Ich habe sie nicht umgebracht.«
Sie ließ ihm das letzte Wort, bedachte ihn jedoch mit einem Blick, den er nicht deuten konnte; dann verschwand sie, um
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