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Das einzige Kind

Das einzige Kind

Titel: Das einzige Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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genug gewesen, sich unter den winterschwarzen Fliederbüschen zu verstecken, deren Zweige über einen Gartenzaun hingen. Er preßte sich an den Zaun und schaffte es tatsächlich, kleiner auszusehen. Trotzdem entdeckte sie ihn sofort.
    Offenbar hatte Olav das Auto seiner Großmutter rasch erkannt, denn er stolperte aus seinem Versteck hervor, noch ehe der Wagen hielt. Er lief schwerfällig und unbeholfen um das Auto herum und öffnete die Tür zum Beifahrersitz. Er rang nach Atem, als er sich auf den Sitz fallen ließ, ohne die Schultasche vom Rücken zu nehmen. Er zog die Beine nach und knallte die Tür viel zu heftig zu.
    Sie schwiegen beide. Er weinte nicht mehr. Eine Stunde später stand er unter der Dusche, dann aß er, und danach schlief er wie ein Stein. Sie hatten kaum ein Wort gewechselt.

    Herrgott, was soll ich machen? Ich habe ihn zwar ungesehen in die Wohnung schmuggeln können, sicherheitshalber sind wir durch die Kellertür hinten im Haus gegangen, und im Treppenhaus ist uns niemand begegnet. Aber was jetzt?
    110
    Die Polizei ruft jeden Tag an. Das ist kein Problem. Sie haben gesagt, daß ich noch einmal verhört werden muß. Nächste Woche vermutlich. Das ist kein Problem, hierher werden sie nicht kommen. Aber ich kann ihn doch nicht für immer hier verstecken.
    Jetzt hat er Angst. Er haßt das Heim. Und deshalb habe ich ihn unter Kontrolle, einstweilen auf jeden Fall.
    Genau wie damals, als er den Kindergarten verwüstet hat. Als wir noch in Skedsmokorset gewohnt haben. Oder war das in Skårer? Nein, das muß in Skedsmo gewesen sein, er war doch erst sechs. Straßenarbeiter hatten eine Dampfwalze mit laufendem Motor stehenlassen, nur für einen Moment. Er hat es irgendwie geschafft, auf dieses Monstrum zu klettern, und dann setzte es sich in Bewegung. Ich habe es selbst gesehen, aus dem Fenster, er war gerade vom Kindergarten nach Hause gekommen und wollte noch draußen bleiben. Wie gelähmt blieb ich stehen und starrte die Dampfwalze an, die nur zehn oder zwölf Meter von dem blauen Häuschen entfernt war. Er konnte nicht ausweichen. Das haben sie mir nachher gesagt. Das Steuerrad ist viel zu schwer für ein Kind, sagten sie. Ich glaube, er wollte es so. Die Walze stand oben an einem kleinen Hang und hatte ein ziemliches Tempo erreicht, als sie gegen die Wand krachte. Ich hörte die riesige Maschine, wie sie einige Sekunden lang gegen das Häuschen drückte, bis es schließlich nachgab. In diesem Moment entdeckten die Straßenarbeiter, was da geschah, aber sie konnten nicht mehr verhindern, daß das Haus mit ohrenbetäubendem Lärm zusammenkrachte. Gott sei Dank war es schon spät. Der Kindergarten hatte schon seit Stunden geschlossen. Die Götter allein wissen, was passiert wäre, wenn sich im Haus Menschen aufgehalten hätten.
    Die Bauarbeiter waren nett. Sie behaupteten, selbst an allem schuld zu sein. Sie hätten die Dampfwalze nicht aus den Augen lassen dürfen. Aber alle in der Straße wußten, daß es seine Schuld war. Wir mußten wieder umziehen.
    111
    Aus irgendeinem Grund hat dieses Erlebnis ihm angst gemacht. Er war viele Tage lang so fügsam, daß ich fast beunruhigt war. Jetzt ist es vielleicht genauso.
    Aber was soll ich machen, wenn er keine Angst mehr hat?
    112
    6
    Zehn Grad minus, und draußen wütete ein Schneesturm. Es war ein stressiger Montagmorgen, und Billy T. versuchte vergeblich, es sich in dem unbequemen Sessel in Hanne Wilhelmsens Büro gemütlicher zu machen. Der Rest der Abteilung war in einen von den Medien umschwärmten Doppelmord im besten
    Westend vertieft, während Billy T. und Hanne, nur unterstützt von Erik Henriksen und Tone-Marit Steen, den Messermord an einer armen Erzieherin aufklären sollten.
    »Auf jeden Fall läßt die Presse uns so ziemlich ungeschoren«, sagte Billy T. »Irgendeinen Vorteil gibt es immer.«
    Der Bericht der Technik lag auf dem Schreibtisch der Hauptkommissarin. Einen Tag früher als üblich, der Mord war vor sechs Tagen passiert. Aber der Bericht sagte ihnen nichts Neues. Entscheidend war der vollständige Bericht aller Untersuchungen, und der würde frühestens in vier Monaten vorliegen. Bestenfalls.
    »Immerhin habe ich einiges in Erfahrung gebracht.«
    Billy T. reckte sich. »Wir haben nur bekannte Fingerabdrücke.
    An den Fenstern, im Büro der Heimleiterin, an den Türen.
    Lauter Abdrücke, die dort zu erwarten sind. Diese verdammte Feuerübung hat ganz schön viel zerstört. Die Fußspuren sind mies, aber sie werden mit den Schuhen

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