Das einzige Kind
Unterhaltszahlungen einfielen, verstummte Billy T. und setzte eine düstere Miene auf.
Hanne legte die Füße auf den Tisch und machte einen Lungenzug.
»Auch daß ein anderes Verbrechen vertuscht werden soll, ist ein bekanntes Mordmotiv.«
»Aber auch dann geht es um Sex oder Geld«, sagte Billy T.
und riß sich aus seinen Grübeleien über seine finanziellen Sorgen.
»Egal, mach dich trotzdem mal kundig. Und noch etwas: Was ist mit den Eltern dieser Kinder? Läßt sich da vielleicht etwas finden?«
»Die meisten sind völlig uninteressant. Aber wir sehen sie uns natürlich noch genauer an. Am spannendsten scheint mir die Mutter dieses verschwundenen Jungen zu sein.«
Tone-Marit blätterte in einem eleganten Ordner, der auf ihren Knien lag.
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»Birgitte Håkonsen«, las sie vor. »Der Junge ist erst seit drei Wochen im Heim, und sie hat den meisten Angestellten schon eine Höllenangst eingejagt. Nicht, daß sie viel gesagt hätte. Sie steht einfach nur da, eine riesige stumme Gestalt mit seltsamem Blick.«
»Du meine Güte«, murmelte Hanne Wilhelmsen.
»Was?«
»Vergiß es. Hat sie den Jungen freiwillig ins Heim gegeben?«
»Ganz und gar nicht. Sie hat sich mit Zähnen und Klauen gegen das Jugendamt gewehrt. Und das ist tatsächlich interessant: Alle anderen Kinder sind freiwillig da, nur Olav nicht.«
»Haben wir sie schon verhört?«
»Also wirklich, Hanne«, protestierte Billy T. »Glaubst du, daß die Mutter eines Jungen, drei Wochen nachdem ihr Sprößling ins Heim gekommen ist, dort angeschlichen kommt, um einen Mord zu begehen?«
»Bestimmt nicht. Trotzdem müssen wir mit ihr reden.«
»Das haben wir schon getan«, sagte Erik Henriksen. »Das heißt, die Jungs, die Olav suchen, haben mit ihr gesprochen.
Mehrmals. Ein richtiges Verhör. Und sie melden sich jeden Tag bei ihr und fragen, ob sie etwas von Olav gehört hat.«
»Na gut. Dann besorg mir die Protokolle. Und der Junge ist noch immer wie vom Erdboden verschluckt?«
»Ja. Mittlerweile glauben sie, daß ihm etwas passiert sein könnte. Wie lange kann ein Zwölfjähriger sich versteckt halten?«
»Hanne, ist das wirklich dein Ernst?« fragte Billy T. gereizt.
»Sollen wir unsere Zeit mit dieser Frau verschwenden?«
»Eins steht jedenfalls fest«, sagte Hanne Wilhelmsen. »Wenn es um Kinder geht, dann sind gewaltige Emotionen im Spiel.«
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Billy T. zuckte mit den Schultern, die beiden anderen versuchten, weder ihn noch Hanne anzusehen. Alle wußten, daß die Besprechung hiermit beendet war. Ehe er ging, wies Billy T.
noch darauf hin, daß das Telefonverzeichnis, das neben dem Telefon auf dem billigen Schreibtisch der Heimleiterin gelegen hatte, etwas Interessantes enthalten könnte. Es wurde gerade überprüft, und auffallend waren vor allem zwei gelbe Zettel, die erst kürzlich auf das Metallregister geklebt worden waren. Auf dem einen stand die Nummer der Sozialschule der Diakonie, die andere Nummer hatte er noch nicht überprüfen können. Aber sie konnte schließlich wichtig sein.
»Kaum«, sagte Hanne gleichgültig und vertiefte sich in ihre eigenen Gedanken, nachdem die Tür von ihrem hitzigen Untergebenen ins Schloß geknallt worden war. Und ihre Gedanken waren ziemlich wirr.
Schon zwei Stunden später war er wieder honigsüß. Wie immer platzte er in ihr Büro, ohne anzuklopfen, und wie immer fuhr sie vor Schreck heftig zusammen. Aber es brachte nichts, ihn deshalb zur Ordnung zu rufen. Er stemmte die Hände auf die Tischplatte, beugte sich vor und hielt ihr seinen Schädel vor die Nase. Der war so blank, daß Hanne Wilhelmsen sich fast darin hätte spiegeln können.
»Die gute alte Frisur«, erklärte er zufrieden. »Fühl mal!«
Sie strich ihm über den Kopf. Er war warm und sauber und fühlte sich richtig gut an.
»Wie Seide, was?«
Er richtete sich zufrieden auf und überzeugte sich mit beiden Händen davon, daß seine Kopfhaut nach wie vor babyweich war.
»Der feinste Schädel im ganzen Haus. In ganz Oslo! Aber ich muß ihn zweimal am Tag rasieren. Zweimal am Tag!«
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Hanne lächelte und schüttelte den Kopf.
»Ab und zu wächst mir dein Ego wirklich über den Kopf«, sagte sie. »Bist du nur gekommen, um mir deinen Schädel zu zeigen? Außerdem hast du mir mit Haaren besser gefallen. Nicht so schrecklich macho, irgendwie.«
Seine blauen Augen blickten sie triumphierend an, so als habe er ihren Kommentar zu seinem Macho-Image als Kompliment aufgefaßt, nicht als Kritik. Sie wußte manchmal wirklich
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