Das einzige Kind
Konservendosen da waren, fand er die Vorstellung, in diesem Haus bleiben zu müssen, ziemlich scheußlich. Er wußte nicht mehr so recht, welcher Tag es war, aber eigentlich stand ja fest, daß die eigentlichen Hausbewohner nicht bis in alle Ewigkeit ausbleiben würden. Er mußte sich ein anderes Versteck suchen. Und er stank. Er hatte versucht, die Fäden aus seiner Zunge zu ziehen, aber das hatte so schrecklich geblutet, daß er nach dem ersten aufgehört hatte.
Das Telefon verlockte ihn noch immer. Sein Magen krampfte sich zusammen vor Heimweh. Vielleicht hatte die Polizei die Suche eingestellt. Dann gab er diese Hoffnung wieder auf.
Aber sie ließ sich nicht so einfach vertreiben. Zu Hause hatte er ein Bett. Ein schönes blaues Bett. Er konnte richtiges Essen bekommen. Schweinekoteletts. Er wollte zu seiner Mama. Er wollte endlich nach Hause.
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Vorsichtig hob er den Telefonhörer, ließ ihn aber sofort wieder fallen, als er das Freizeichen hörte. Dann machte er sich über die andere Wand her. Das ging nicht so gut, denn sie war angestrichen, und deshalb haftete die Tapete besser. Er riß nur kleine Fetzen ab, die aussahen wie Locken. Nach der Hälfte gab er auf. Er stapfte wieder auf den Flur. Draußen war es dunkel, und das Licht aus der fensterlosen Toilette konnte die Diele nur spärlich beleuchten. Das Licht, das die ganze Zeit gebrannt hatte.
Jetzt zögerte er nicht mehr. Er wählte die vertraute Nummer und ließ es klingeln. Es klingelte lange. Er wollte schon auflegen und fragte sich, wo seine Mutter stecken mochte. Es war doch Abend. Da war sie immer zu Hause. Doch dann meldete sie sich.
»Hallo?«
Er schwieg.
»Hallo?«
»Mama?«
»Olav!«
»Mama.«
»Wo … wo bist du?«
»Ich weiß nicht. Ich will nach Hause.«
Und dann weinte er. Ihn schockierte das mehr als seine Mutter.
Er schluchzte noch ein bißchen und kostete mit einer vagen Erinnerung an seine frühe Kindheit den Geschmack seiner Tränen aus. Vor lauter Heimweh ließ er sich zu Boden sinken, und er sagte noch einmal: »Ich will nach Hause, Mama.«
»Olav, hör mir gut zu. Du mußt herausfinden, wo du bist.«
»Ist die Polizei bei dir?«
»Nein. Bist du in Oslo?«
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»Die werden mich in das verdammte Heim zurückschicken.
Oder ins Gefängnis.«
»Kein Kind kommt ins Gefängnis, Olav. Du mußt mir sagen, wie es da aussieht, wo du bist.«
Er versuchte es. Er beschrieb die Küche. Und das Haus. Er beschrieb die tausend Lichter hinter der dunklen Fensterfläche im Wohnzimmer und die hellrosa Dunstglocke, die über der Stadt unter ihm hing.
Er ist in Oslo, Gott sei Dank, er ist in Oslo, dachte sie.
»Du mußt dich rausschleichen und ein Straßenschild suchen, Olav. Ich muß genauer wissen, wo du bist.«
Als sie durch das Telefon ein Kratzen hörte, fügte sie schnell eine Warnung hinzu: »Nicht auflegen! Leg den Hörer einfach neben das Telefon, bis du zurück bist. Geh gleich los. Sieh nach.
Meistens stehen an Kreuzungen Straßenschilder. Such eine Kreuzung. Die allernächste.«
Das tat er. Er brauchte nur sechs oder sieben Minuten, dann konnte er ihr einen Straßennamen nennen.
»Jetzt bleibst du eine Weile im Haus. Eine halbe Stunde. Hast du deine Uhr bei dir?«
»Ja.«
»Nach genau einer halben Stunde gehst du zu der Kreuzung und wartest dort auf mich. Du darfst nicht ungeduldig sein. Ich komme, aber vielleicht brauche ich etwas Zeit, um den Weg zu finden.«
»Ich will nach Hause, Mama.«
Jetzt weinte er wieder.
»Ich hole dich, Olav. Ich komme dich sofort holen.«
Dann hörte sie am anderen Ende der Leitung ein Klicken.
Sie brauchte ein Auto. Die einzige Möglichkeit war ihre Mutter. Das Herz wurde ihr schwer, und einen Moment lang 109
spielte sie mit dem Gedanken, ein Taxi zu nehmen. Aber das war zu riskant. Jetzt war der Junge ja schon im Fernsehen gesucht worden, es war zu gefährlich, er durfte nicht gefunden werden. Sie mußte den Wagen ihrer Mutter nehmen.
Es ging leichter, als sie befürchtet hatte. Sie erklärte ihren Wunsch mit einem Termin bei der Polizei, und die Mutter war zu betrunken, um sich zu überlegen, daß die Polizei wohl kaum am Freitag abend Termine machte. Eine Dreiviertelstunde nachdem der Junge angerufen hatte, hielt sie an einer Kreuzung in Grefsen. In der Gegend standen vor allem Einfamilienhäuser aus den fünfziger Jahren mit dem einen oder anderen Anbau aus den Siebzigern. Alle Gärten hatten kleine Zäune. An der Kreuzung brannten die Laternen, aber der Junge war klug
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