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Das einzige Kind

Das einzige Kind

Titel: Das einzige Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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sah mich an, so als erwartete sie, daß ich etwas unternahm. Ich wußte, daß die Hölle los sein würde, wenn jemand versuchte, ihn aufzuhalten.
    Also sagte ich, er müsse aufs Klo und erfand eine Harnleiterentzündung. Dann schlich ich mich hinaus, um ihn zu suchen. Er war nirgends zu finden. Später stellte sich dann heraus, daß er sich in eine andere Klasse geschlichen hatte. Er erklärte, er wollte lieber in diese Klasse gehen.
    Er war natürlich nicht dumm. Im Gegenteil, gerade Rechnen fiel ihm leicht. Und später Englisch. Er war unglaublich gut in Englisch, allerdings nur mündlich. Sie sagten, er säße eben zuviel vor dem Fernseher. Das war typisch, wenn er etwas gut machte, etwas beherrschte, dann wurde das auch negativ ausgelegt, dann sollte auch das mein Fehler sein.
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    Noch vor dem Ende des ersten Schuljahres war er der Sündenbock der ganzen Schule. Die anderen Kinder gingen ihm aus dem Weg, die größeren hänselten ihn und stifteten ihn zu den unglaublichsten Streichen an. Am Nationalfeiertag holte er die Flagge am Fahnenmast der Schule herunter, während alle sich die Rede einer süßen Kleinen aus der fünften Klasse anhörten, die von Krieg und Freiheit und Verfassung erzählte, bis sie plötzlich verstummte und auf die riesige Flagge zeigte, die jetzt auf Halbmast hing. Sie war in lange Streifen zerschnitten, die munter im Wind wehten. Neben dem Fahnenmast stand Olav, jubelte, schwenkte seine Schere und schaute immer wieder triumphierend zu einigen Jungen aus der Siebten hinüber, die vor Lachen auf dem Boden lagen. Ich konnte einfach nicht mehr. Ich ging. Er hatte mit den großen Jungen gewettet, erzählte er mir dann. Als ich versuchte, ihm zu erklären, daß ich ihm doch Geld geben könnte, blickte er mich überrascht an und lächelte dieses seltsame Lächeln, das ich nie deuten kann.
    Anfangs wurde er zu Geburtstagsfesten eingeladen. Auf jeden Fall im ersten Jahr. Er war immer munter und zufrieden, wenn er nach Hause kam, aber ich habe nie erfahren, wie diese Feste abliefen. Dann war damit Schluß, und ich litt wirklich sehr, wenn ich zusehen mußte, wie die anderen Kinder aus der Nachbarschaft im Sonntagsstaat und mit Geschenken unter dem Arm zu neuen Festen loszogen. Die ersten Male saß er am Fenster, aber wenn ich dann vorschlug, daß wir zusammen etwas Nettes unternehmen könnten, schob er mich weg und setzte sich vor den Fernseher.
    Das war im Grunde das einzige, das nicht zu den üblichen MCD-Symptomen paßte. Er konnte stundenlang vor dem Bildschirm sitzen. Und er sah sich alles an. Es war unglaublich, was er alles mitbekam. Als kleiner Junge hatte er keinerlei Interesse für die Kinderprogramme aufgebracht, wenn ich ihn vor den Fernseher gesetzt hatte. Als er in die zweite Klasse kam, 178
    sah er sich bereits alles an. Er schien Trickfilme für die ganz Kleinen, Nachrichten und Actionfilme gleichermaßen zu genießen. Ich wußte ja, daß diese Filme nicht gut für ihn waren, aber er schien sich nie zu fürchten. Mit einer Ausnahme. Ich wollte ins Bett, aber er sah einen Film und wollte auf keinen Fall schon schlafen. Ich versuchte, ihn mit einer Belohnung zu ködern, am nächsten Tag mußte er ja schließlich in die Schule, aber er ließ nicht mit sich reden. Der Film hieß » Alien « , und soviel ich sehen konnte, spielte eine Frau die Hauptrolle. Also dachte ich, so schlimm könne er ja wohl nicht sein. Ich ging ins Bett.
    Mitten in der Nacht weckte er mich. Er weinte nicht, aber er hatte ganz klar Angst. Er wollte zu mir ins Bett, und das hatte er zuletzt als kleines Kind gemacht. Ich ließ ihn unter meine Decke und nahm ihn in den Arm. Er schob meine Arme weg, wollte sich aber an mich schmiegen. Er schlief fast die ganze Nacht durch.
    Am nächsten Tag hatte er alles vergessen. Ich fragte, was denn so unheimlich gewesen sei, aber er lächelte nur.
    In der Schule wurde er fünfzehn Stunden die Woche betreut. In der ersten und auch noch zu Beginn der zweiten Klasse war er in den meisten Fächern gut mitgekommen, aber er war so unruhig, daß er sehr viel überhörte. Der Betreuer sollte ihn vor allem zum Stillsitzen bringen, aber sie hatten auch ein paar Stunden zur freien Verfügung.
    Olav mochte den Betreuer. Auch ich kam gut mit dem jungen Mann aus. Anfangs hatte ich ein bißchen Angst vor ihm, aber er lachte viel, und ich hatte zumindest den Eindruck, daß auch er meinen Jungen mochte. Manchmal kam er mit Olav nach Hause, und dann war Olav fast nicht wiederzuerkennen. Auf

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