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Das einzige Kind

Das einzige Kind

Titel: Das einzige Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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grünen
    Nummernschildern stieg. Er sah sich nicht weiter um, sondern ließ den leisen Motor an und huckelte über den holprigen Weg zum einige hundert Meter entfernten Tor.
    Der arme Mann, dachte Hanne und blickte zum Himmel hinauf.
    Es war klares kaltes Wetter. Die Sonne schien blaß und halbherzig auf den Boden und hatte nur wenig Wärme zu bieten.
    Von den umherstehenden Menschengruppen waren leise Gespräche zu hören. Hanne Wilhelmsen ging zum Witwer hinüber.
    »Ach, Sie sind hier«, sagte der mit dünner, tonloser Stimme.
    »Ja, wie Sie sehen.«
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    Sie lächelte vorsichtig. Die Jungen waren bereits zum Parkplatz gegangen, und Amanda durfte hinterherrennen. Er ließ seine Tochter nicht aus den Augen, bis sie ihre Brüder erreicht hatte. Dann wandte er sich der Hauptkommissarin zu.
    »Gehen Sie immer zu den Beisetzungen von Mordopfern?«
    Seine Stimme klang ein wenig anklagend und ziemlich kalt.
    »Nein, aber das war ja auch kein normaler Mord.«
    »Nicht? Und was ist daran anders?«
    Sein Gesicht zeigte, daß er von ihrer Antwort nicht viel erwartete. Er zupfte diskret an seinem Ärmel, und sie konnte sehen, daß seine Uhr nicht billig gewesen war.
    »Wir brauchen hier nicht darüber zu reden«, sagte Hanne und wollte zu Maren Kalsvik hinübergehen, die fünfzehn Meter von ihnen entfernt stand und sie ungeduldig ansah.
    »Halt!«
    Er streckte die Hand aus und erwischte gerade noch Hannes Arm. Als sie stehenblieb, ließ er sie sofort los.
    »Ich wollte Sie anrufen, aber, Sie wissen schon … es gab so viel zu erledigen. Praktisches. Die Jungen. Amanda.«
    Er richtete sich auf und holte tief Luft. Die Sonne schien ihm ins Gesicht. Der ganze Mann hatte etwas unendlich Trauriges mit seinem perfekten Anzug und den frischgeschnittenen Haaren, die mit Haarspray gebändigt worden waren, so als sei ein korrektes Äußeres das einzige, was ihm Halt geben könnte.
    »Dieses Messer«, sagte er endlich. »Mit dem Agnes ermordet worden ist. War das ein normales Küchenmesser? So ein …
    Tranchiermesser, heißt das nicht so?«
    »Ja«, antwortete Hanne leicht verwundert. »Oder wohl eher ein großes Fleischermesser. Warum?«
    »Vielleicht war es eins von unseren.«
    »Was?«
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    »Es kann unser Messer gewesen sein. An dem Abend, an dem Agnes … an dem sie gestorben ist, hatte sie vier Messer mit ins Kinderheim genommen.«
    »Wie bitte?«
    Hanne vergaß, daß sie auf einer Beerdigung war, und wurde laut.
    »Bitte regen Sie sich nicht auf!«
    Er hob die Hände und bewegte sie mehrere Male auf und ab, um Hanne zu beruhigen.
    »Im Kinderheim gibt es eine sehr gute elektrische
    Schleifmaschine. Deshalb hat sie ihre eigenen … unsere Messer mitgenommen, ab und zu, um sie zu schleifen eben. An diesem Morgen hat sie vier oder vielleicht fünf eingepackt. Das weiß ich noch, weil sie sie vorher gespült und sich an einem geschnitten hat. Ich mußte ihr ein Pflaster holen.«
    »Aber warum erzählen Sie mir das erst jetzt?«
    »Ich hab nicht weiter darüber nachgedacht! Ich war so sicher, daß sie sie nachmittags wieder mit nach Hause gebracht hatte, sie ließ sie ja nicht im Heim herumliegen. Und …«
    Er verstummte und bemerkte, daß die anderen Trauergäste ebenfalls schwiegen. Aller Aufmerksamkeit richtete sich auf ihn und Hanne. Er zog sie näher an die Kapelle heran.
    »Um ganz ehrlich zu sein, seit Agnes’ Tod hat meine Schwiegermutter den Haushalt übernommen. Sie ist sofort gekommen. Erst gestern abend, als sie sich beklagt hat, weil wir kaum Küchenmesser hätten, ist mir das alles wieder eingefallen.
    Ich glaube, es waren vier Messer. Oder vielleicht fünf, wie gesagt.«
    »Von IKEA?«
    »Ach, da habe ich wirklich keine Ahnung. Ich weiß nicht, wo meine Frau Messer kauft … gekauft hat.«
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    »Aber ich nehme an, Sie würden das Messer wiedererkennen?«
    Er war zu erschöpft, um ihren spöttischen Tonfall zu registrieren.
    »Das nehme ich an.«
    »Dann gehe ich davon aus, daß Sie morgen um neun Uhr zu uns kommen. Um Punkt neun. Sie haben mein tiefstes Mitgefühl.«
    Sie drehte sich auf dem Absatz um. Es gab nur einen Grund, warum sie den Mann nicht sofort mitgenommen hatte. Nicht daß er gerade seine Frau bestattet hatte, sondern daß drei Kinder ihre Mutter begraben hatten.
    Maren Kalsviks Lippen waren blau, sie klapperte mit den Zähnen. Sie hatte die Kinder zum Auto geschickt, einem großen blauen Kastenwagen.
    »Was wollen Sie?« fragte sie mit klappernden Zähnen.
    »Das hat Zeit bis morgen«, sagte Hanne.

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