Das einzige Kind
»Aber wir müssen morgen mit Ihnen sprechen. Um zwölf, geht das?«
»So wenig wie zu jedem anderen Zeitpunkt auch«, sagte Maren und zuckte mit den Schultern. »In Ihrem Büro?«
Hanne Wilhelmsen nickte und zog sich die Kapuze ihres Dufflecoats über den Kopf. Dann lief sie zu ihrem Dienstwagen und fluchte wie ein Bierkutscher.
Billy T. war nirgends zu finden. Irgendwer glaubte, ihn vor einer halben Stunde gesehen zu haben, war sich jedoch nicht sicher.
Andere konnten erzählen, daß er sie gesucht hatte. Die Vorzimmerdame breitete resigniert die Hände aus, verdrehte die Augen und beklagte, daß niemand die Weisheit der Anordnung, daß jeder sich abzumelden habe, einsehen mochte.
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»Und wir werden dafür angepöbelt«, sagte sie bedauernd und von Hauptkommissarin Wilhelmsen ein wenig Mitleid
erwartend.
Aber die Hauptkommissarin war in ihre eigenen Gedanken versunken. Zuerst schaute sie in Billy T.s Büro vorbei, um die Telefonnummer zu suchen, die an Agnes Vestaviks
Telefonregister geklebt hatte. Die Suche in diesem Chaos war aussichtslos. Nach vier oder fünf Minuten gab sie auf und tröstete sich damit, daß er ja schließlich deutlich gesagt hatte, es handle sich um die Nummer der Sozialschule der Diakonie.
Sie ging in ihr eigenes Büro und schnappte sich das Telefonbuch, ehe sie sich setzte. »Diakonisches Heim, norwegisches«, war alles, was sie fand. Aber dort standen zum Ausgleich jede Menge Nummern. Es gab eine
Schwesternhelferinnenschule, ein Krankenhaus, ein sogenanntes Internationales Zentrum und eine Stiftung mit eigener Telefonnummer. Und dann war noch das »Diakonische
Hochschulzentrum« aufgeführt. Sie wählte die Nummer, ohne zu wissen, wonach sie fragen sollte.
Erst nach einer Ewigkeit meldete sich jemand. Eine tonlose, fast mechanische Stimme sagte: »Hochschulzentrum, ja bitte.«
Hanne fragte sich einen Moment, ob sie vielleicht an einen Anrufbeantworter geraten sei. Sie verlangte das Vorzimmer des Rektors, weil ihr nichts Besseres einfiel. Dort meldete sich eine Sekretärin mit Sonne und Lachen in der Stimme, also etwas ganz anderes als in der Telefonzentrale.
Hanne stellte sich vor und versuchte, ihr Anliegen anzubringen, ohne zuviel zu verraten. Die Sekretärin war schnell von Begriff, wie ihre Stimme es verheißen hatte, und konnte sofort bestätigten, ja, daß Agnes Vestavik, die arme, arme Frau, in der letzten Woche mehrmals angerufen hatte. Vielleicht auch in der vorletzten. Auf jeden Fall wußte sie, daß Agnes angerufen hatte, sie alle waren zutiefst schockiert gewesen, als sie von dem Mord erfahren hatten. Wie es denn der Familie gehe?
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Hanne konnte sie in dieser Hinsicht beruhigen und fragte, was Agnes gewollt habe. Da konnte ihr die Sekretärin leider nicht helfen, aber einmal hatte es sich wohl um die Prüfungsstelle gehandelt. Und weil sie keine eigene hatten, hatte sie sich den Rektor geben lassen. Das sei beim ersten Anruf gewesen, meinte die Sekretärin. Aber worüber sie gesprochen hatten, nein, da konnte sie leider nicht weiterhelfen. Vielleicht hatte auch der Rektor Agnes weitergereicht. Das wußte sie wirklich nicht.
Hanne hätte gern den Rektor gesprochen, aber der weilte in Dänemark auf einem Seminar. Er würde am Freitag zurücksein.
Hanne Wilhelmsen versuchte, ihren Ärger darüber nicht zu zeigen, die Sekretärin war schließlich sehr hilfsbereit gewesen.
Sie lehnte das Angebot, den Aufenthaltsort des Rektors in Dänemark ausfindig zu machen, ab und beendete das Gespräch.
Ehe sie auflegte, bat sie die Sekretärin jedoch, so schnell wie möglich herauszufinden, ob Agnes Vestavik jemals an der Sozialschule der Diakonie gearbeitet habe. Die Sekretärin versprach das, lachte, zwitscherte einen Abschiedsgruß und notierte sich Hanne Wilhelmsens Namen und Telefonnummer.
Hanne hing noch immer die Stimme der fröhlichen Sekretärin im Ohr, als sie den Hörer auflegte. Die Stimmung besserte sich, wenn man mit solchen Menschen sprach. Wenn auch nur für einige Sekunden.
Sie mußte Billy T. finden.
Olav war wieder von Unruhe erfüllt. Er verhielt sich zwar ruhig, wenn er aß und schlief, und das tat er oft, aber zwischen den Mahlzeiten hatte er immer größere Probleme. Sie hatte ihm einige Comics gekauft, aber auch die konnten ihn nicht länger als wenige Minuten fesseln. Die erste lähmende Angst hatte sich offenbar verloren, und er hörte nicht mehr auf sie.
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»Wenn du rausgehst, finden sie dich. Du bist doch als vermißt gemeldet worden.
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