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Das einzige Kind

Das einzige Kind

Titel: Das einzige Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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halb neun im Bett liegen. Jeanette und Glenn so gegen zehn, Anita und Raymond sollen im Prinzip vor elf schlafen, wenn sie am nächsten Tag in die Schule müssen, aber vor allem Raymond hat da ziemlich große Freiheit.«
    »Und wie war es am fraglichen Abend?«
    Der Mann dachte nach und trank noch einen Becher Wasser.
    »Ich glaube, sie waren alle ziemlich früh im Bett. Sie waren müde, wir hatten doch die Feuerübung gemacht, und danach waren sie über alle Berge, weil sie schulfrei hatten. Raymond fühlte sich außerdem nicht ganz wohl, glaube ich. Sicher waren alle bis halb elf eingeschlafen. Bis zehn.«
    »Wann sind sie in ihre Zimmer gegangen?«
    »Na, die Kleinen werden ins Bett gebracht. Bei den Großen habe ich nicht nachgesehen.«
    Er unterbrach sich, und ein fast verquälter Zug huschte über sein Gesicht.
    »Agnes kam dann gegen zehn, glaube ich, und da hatte ich längst allen gute Nacht gesagt. Ob Raymond schon schlief, weiß ich allerdings nicht.«
    »Er behauptet jedenfalls, nicht gehört zu haben, daß Agnes gekommen ist«, teilte der Wachtmeister mit. »Das ist also möglich. Daß er schon schlief, meine ich. Und haben Sie auch geschlafen?«
    »Nein, ich saß vor dem Fernseher. Und ich habe in den Zeitungen geblättert und Patiencen gelegt, wenn ich mich richtig erinnere.«
    »Wo haben Sie gesessen?«
    Der Mann wirkte ein wenig verwirrt und runzelte die Stirn.
    »Im Fernsehzimmer natürlich.«
    »Und wo genau?«
    202
    »In einem Sessel. Einem Sessel.«
    Erik Henriksen legte seinem Fast-Namensvetter ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber hin.
    »Zeichnen Sie das mal auf!«
    Vassbunn hantierte mit dem Kugelschreiber herum und konnte schließlich eine wackelige Skizze des Fernsehzimmers mit halbwegs präzise eingezeichneten Türen und Fenstern liefern.
    Dann strichelte er Sessel, Sofa, Tisch und den Fernseher und verteilte auf dem Boden willkürlich einige Kreise.
    »Die Sitzsäcke«, erklärte er. »Und da habe ich gesessen.«
    Er kreuzte einen Sessel an, der mit der Rückenlehne zur Tür stand.
    »Aha«, sagte der Wachtmeister und betrachtete die Skizze genauer. »Stand die Tür zum Wohnzimmer offen?«
    »Zum Aufenthaltsraum«, korrigierte der andere und stolperte dabei über alle Konsonanten. »Wir nennen das Aufenthaltsraum.
    Ja. Die war offen.«
    »Sind Sie sich ganz sicher?«
    »Sie stand jedenfalls offen, als Agnes gekommen ist, und danach habe ich das Zimmer erst zu meiner Runde verlassen.
    Also war sie ganz bestimmt offen.«
    Der Wachtmeister bedeutete ihm, es werde eine Pause geben, weil er sich einige Notizen machen müsse. Er brauchte eine halbe Stunde, um eine Dreiviertelseite in die Tastatur zu hauen.
    Als er fertig war, war der verhörte Zeuge eingeschlafen.
    Das hatte Wachtmeister Henriksen noch nie erlebt. Er stutzte, und er fand es fast unhöflich, den Mann zu wecken.
    Andererseits mußten sie doch weiterkommen. Er blieb eine Weile unentschlossen sitzen und starrte Eirik Vassbunn an. Der schlief wirklich, mit auf die Brust gekipptem Kopf und halboffenem Mund. Der Wachtmeister hätte gern gewußt, welche Medikamente er genommen hatte.
    203
    Schließlich lehnte er sich über den Tisch und berührte den anderen am Arm.
    »Vassbunn! Sie müssen aufwachen!«
    Der Mann fuhr hoch und wischte sich ein wenig Speichel von der unrasierten Wange.
    »Entschuldigung. Das kommt von diesen Medikamenten! Und nachts kann ich einfach nicht schlafen.«
    »Ist schon gut«, beruhigte ihn der Wachtmeister, und dann fiel ihm etwas ein. »Was nehmen Sie denn eigentlich?«
    »Nur Valium.«
    »Warum?«
    »Weil ich einen Schock erlitten habe, natürlich.« Jetzt wirkte er zum erstenmal gereizt und abweisend. »Sie haben ja keine Ahnung, wie das ausgesehen hat. Agnes mit einem riesigen Messer im Rücken, offene, starrende Augen, und … es war entsetzlich.«
    Erik Henriksen hätte dem Mann natürlich erzählen können, daß er die Frau gesehen hatte, in ihrem Sessel und als sie in einen Sack mit der Aufschrift »Krankenhaus« gesteckt wurde, aber er verkniff sich diese Auskunft. Er suchte einen Aschenbecher und zeigte auf die Packung Tabak, die aus der Brusttasche seines Gegenübers hervorschaute.
    »Sie dürfen gern eine rauchen.«
    Vassbunns Hände zitterten, deshalb brauchte er einige Zeit, um sich eine Zigarette zu drehen, aber er schien dankbar zu sein.
    »Nehmen Sie diese Medikamente nur jetzt, in Verbindung mit diesem Erlebnis?«
    Volltreffer. Der Mann ließ Papier und Tabak fallen und zitterte noch

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