Das einzige Kind
unsicher auf die Tür zuwankte. »Schicken Sie sie an mich. Gute Besserung!«
Erik Henriksen war sicher, daß Hanne Wilhelmsen mit dem Verhör sehr zufrieden sein würde. Trotz der fehlenden Interpunktion.
Es war verdammt öde, die ganze Zeit auf der Bude zu hocken.
Vor allem natürlich vormittags, wenn es nichts im Fernsehen gab. Er war seit fast einer Woche nicht mehr draußen gewesen.
Im Grunde fehlte ihm die Schule ein bißchen. Da hatte er immerhin etwas zu tun. Zu Hause passierte nichts. Seine Mutter war noch stiller als sonst. Sie war immer so verdammt still.
Vor der Besprechung mit dem Ausschuß, wo beschlossen worden war, daß er nicht mehr zu Hause wohnen dürfte, hatte er 210
mit einer Frau gesprochen, die behauptet hatte, in dieser Angelegenheit so eine Art Richterin zu sein. Sie hätte auch die Wahrheit sagen können. Er wußte, daß sie die
Ausschußvorsitzende war, seine Mutter hatte ihm schließlich alles genau erklärt. Er war sogar mit ihr beim Anwalt gewesen und hatte viele Papiere gelesen, die alle mit ihm zu tun hatten.
Die Besprechung hatte ziemlich lange gedauert. Sie hatte nicht im Büro der Ausschußvorsitzenden stattgefunden, sondern in einem großen Saal mit Tischen, bei denen nur auf einer Seite Stühle standen. Die Frau hatte gesagt, daß die Besprechung dort abgehalten werden sollte. Ihm war es ein wenig wie ein Gerichtssaal vorgekommen, und sie hatte nicht sonderlich überrascht gewirkt, als er das gesagt hatte. Sie sah nicht besonders norwegisch aus, sondern eher wie eine Indianerin, mit dunkler Haut und tiefschwarzen Haaren, aber sie hatte ganz normal gesprochen und einen norwegischen Namen gehabt.
Sie hatte ihn gefragt, wo er am liebsten wohnen würde, wenn er sich das selbst aussuchen könnte. Zu Hause, hatte er natürlich geantwortet. Doch dann hatte sie wissen wollen, warum. Und es war nicht gerade leicht zu erklären, warum man zu Hause wohnen will, deshalb hatte er nur gesagt, das sei eben so üblich und er wolle nicht umziehen. Die Frau hatte ihm ziemlich zugesetzt. Und sie hatte immer wieder dieselben Fragen gestellt.
Was dieses Gespräch für einen Sinn haben sollte, hatte er nicht kapiert, am Ende wurde ja doch entschieden, daß er umziehen mußte. Schließlich hatte sie ihn noch gefragt, ob er seine Mutter liebhätte.
Was war denn das nun wieder für eine Frage? Alle hätten ja wohl ihre Mutter lieb, hatte er geantwortet. Er auch, klar doch.
Es war ihm gar nicht schwergefallen, das zu sagen. Es war doch die Wahrheit. Und er wußte, daß auch seine Mutter ihn liebte. Wir gehören zusammen, das sagte sie immer. Aber ihm kam das nicht immer so vor, wenn sie zusammen waren. Sie fürchtete sich vor allem möglichen, vor den Nachbarn, vor der 211
Großmutter, vor seinen Lehrern. Und vor dem verdammten Jugendamt. Sie nervte ihn mit dem Jugendamt, soweit er zurückdenken konnte, vor allem, wenn jemand sich über ihn beklagt hatte.
Er wollte raus. Er mußte raus.
»Ich mach mal einen Spaziergang«, sagte er plötzlich und sprang vom Sofa auf.
Seine Mutter ließ langsam ihre Zeitung sinken.
»Das kannst du nicht, Olav. Das weißt du. Dann mußt du ins Kinderheim zurück.«
»Aber ich kann es hier nicht mehr aushalten«, jammerte er, ohne sich wieder zu setzen.
»Das verstehe ich ja. Aber wir müssen uns zuerst eine Lösung ausdenken.«
Er stemmte die Hände in die Seiten und spreizte die Beine.
Das sah komisch aus, aber sie lachte nicht.
»Uns eine Lösung ausdenken? Wann denn? Wann willst du dir diese Lösung ausdenken, von der du schon die ganze Woche redest?«
Sie antwortete nicht, sondern umklammerte nur die Zeitung, die in ihren Händen zu einer Rolle geworden war.
»Du denkst dir keine Lösung aus, Mama. Du denkst dir nie eine Lösung aus.«
Er war nicht einmal wütend. Sein ovales, seltsames Gesicht sah fast traurig aus, und er streckte die Hand nach ihr aus, ließ sie dann aber sinken.
»Ich werde mir schon etwas einfallen lassen«, flüsterte sie.
»Irgend etwas. Ich brauche nur noch ein bißchen Zeit.«
»Also echt, Mama.«
Mehr sagte er nicht, er drehte sich um und ging in die Diele hinaus. Seine Mutter sprang auf und lief hinter ihm her.
212
»Olav, mein Junge, du darfst nicht rausgehen!«
Sie hängte sich an seinen Arm. Olav Håkonsen war zwar erst zwölf Jahre alt, aber er wußte, daß seine Mutter Angst hatte.
Außerdem wußte er, daß sie recht hatte, es wäre leichtsinnig, das Haus zu verlassen. Und er war sich sicher, daß sie
Weitere Kostenlose Bücher