Das einzige Kind
Ermittlerin. Aber du mußt dem Job eine Chance geben. Benimm dich nicht wie eine Hauptkommissarin light oder wie eine Fahnderin de luxe. Okay?«
Aus dem Vorzimmer hörten sie laute Stimmen und Gelächter.
Das große Haus füllte sich langsam. Mit Menschen, die Hanne Wilhelmsens Job sofort übernommen hätten. Einen Job, den sie im Moment am liebsten aus dem Fenster geworfen hätte. Sie war zutiefst niedergeschlagen, weniger, weil sie nur ungern getadelt wurde, sondern vielmehr, weil er recht hatte und sie das wußte. Sie hätte sich niemals bewerben dürfen. Dieser Trottel Håkon Sand hatte sie dazu überredet. Plötzlich und zu ihrer Überraschung hatte sie große Sehnsucht nach ihm. Billy T. war schon in Ordnung. Er war ihr ebenbürtig. Sie verstanden einander oft ohne ein einziges Wort. Håkon Sand, der Polizeiadjutant, mit dem sie so lange zusammengearbeitet hatte, unter anderem in zwei dramatischen und aufsehenerregenden Mordfällen, war eine Trantüte. Er stolperte durchs Dasein, in der Regel einen oder fünf Schritte hinter allen anderen. Aber er war klug. Er hörte zu. Sie ließ ihn immer wieder im Stich, aber er war stets freundlich, immer entgegenkommend. Erst vor einer Woche hatte er angerufen und sie zum Essen eingeladen, er wollte ihr seinen inzwischen knapp drei Monate alten Sohn zeigen. Der Junge hieß sogar nach ihr, fast wenigstens. Er hieß Hans Wilhelm. Håkon hatte sie zur Patentante haben wollen, und sie hatte sich geschmeichelt gefühlt, dann aber abgelehnt, in einer Kirche wollte sie nicht lügen. Aber sie war vor zwei Wochen bei der Taufe gewesen, hatte allerdings früher gehen müssen. Håkon war enttäuscht gewesen, hatte aber gelächelt und sie gebeten, bald anzurufen. Das hatte sie vergessen. Bis er dann in der letzten Woche unverändert fröhlich angerufen hatte. An den Tagen, die er vorgeschlagen hatte, konnte sie sich jedoch nicht freimachen.
Er fehlte ihr. Sie würde ihn noch heute anrufen.
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Aber zuerst mußte sie ihrem wenig zufriedenen Chef gut zureden. Sie hatte keine Ahnung, wo sie anfangen sollte.
»Ich werde mich bessern«, sagte sie. »Wenn dieser Fall gelöst ist, werde ich mich bessern.«
»Und wie lange dauert das noch, Hanne?«
Sie erhob sich, sah aber in seinen Augen ein irritiertes Funkeln und setzte sich wieder.
»Bestenfalls anderthalb Tage. Schlimmstenfalls eine Woche.«
»Was?«
Jetzt hatte sie ihn beeindruckt, und sie spürte, wie ihre Laune sich besserte.
»Wenn an einem kleinen Haken, den ich ausgeworfen habe, etwas anbeißt, dann müßte bis zum Wochenende das Ärgste geschafft sein.«
Jetzt gönnte der Chef ihr ein echtes Lächeln.
»Jaja«, sagte er. »Dann hast du immerhin bewiesen, was wir ohnehin schon wußten. Mit Ermittlungsarbeiten kennst du dich aus.«
Er teilte ihr durch eine Handbewegung mit, daß sie gehen konnte, und Hanne sprach ein stilles Gebet, ehe sie vorsichtig die Tür hinter sich schloß.
Wenn ich jetzt bloß den Schnabel nicht zu weit aufgerissen habe …
Eine Stunde später traf Agnes Vestaviks hinterbliebener Ehemann im Grønlandsleiret 44 ein, um Punkt Null-neun-null-null. Er war ebenso korrekt gekleidet wie bei seinem ersten Besuch, aber die vergangenen acht Tage hatten ihn zwei Kilo gekostet. Diesmal fand Billy T. den Mann schon sympathischer, was er sich mit einer gewissen Verärgerung eingestand.
Aber die Gestalt vor ihm hätte auch dem härtestgesottenen Zyniker einen Hauch von Sympathie eingeflößt. Die Hände des Mannes zitterten, seine Augen wiesen durchgehend einen 195
rötlichen Schimmer auf, von der weichen Haut der Lider bis tief in den weißen Augapfel hinein. Seine Haut war fahl und feucht, und Billy T. bildete sich ein, daß die Poren in Vestaviks Gesicht bei ihrer ersten Begegnung noch nicht so deutlich zu sehen gewesen waren.
»Wie geht’s denn, Vestavik?« fragte er so freundlich, daß sein Gegenüber ihn verdutzt anstarrte. »Ist es sehr schwer?«
»Ja. Und am schlimmsten sind die Nächte. Tagsüber ist so viel zu erledigen. Die Jungen sind noch zu Hause, der Älteste hat sich zwei Wochen freigeben lassen, um sich um Amanda zu kümmern. Meine Schwiegermutter hat zwar alles im Griff, aber leicht ist es ja trotzdem nicht … Sie wissen schon, Schwiegermütter …«
Billy T. hatte sich in seinem ganzen Leben noch nicht mit einer Schwiegermutter befassen müssen, aber trotzdem nickte er zustimmend. Wenn es Schwierigkeiten gab, waren sie vermutlich auch nicht besser als ihre Töchter.
»Und jetzt
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