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Das einzige Kind

Das einzige Kind

Titel: Das einzige Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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dem Weg zum Büro des Rektors fragen, da fiel ihr Blick auf einen Gebäudeplan, der besagte, daß sie die Treppe hoch, dann nach links und durch das Atrium gehen sollte. Zwei weitere schwarze Bretter luden sie unterwegs zur Morgenandacht ein und boten Fürbitten an.
    Wäre vielleicht gar nicht so blöd, dachte sie. Aber wenn ich das richtig verstanden habe, dann gelten diese Fürbitten nicht für solche wie mich.
    Im Sekretariat stellte sich heraus, daß Hanne mit einer Frau namens Ellen Marie Sørensen sprechen mußte. Diese Frau wußte offenbar genau, was sie wollte. Ihr Gesicht war spitz und energisch. Ihre Kleider waren nicht sonderlich teuer, nicht sonderlich geschmackvoll, aber korrekt. Sie paßten zur Gesamterscheinung. Ein grauer Faltenrock und eine
    Rüschenbluse unter einem etwas dunkleren grauen Jackett ließen sie älter aussehen, als sie vermutlich war. Ihre Haare hatten einen einfachen, aber sehr weiblichen Schnitt, leichte Strähnen zeugten noch von lange zurückliegenden
    Einfärbungen. Ellen Marie Sørensen war der Typ Frau, bei dem Hanne Wilhelmsen sich immer wie ein Trampel vorkam. Sie bereute, nichts Offizielleres als eine Samthose und einen Trachtenpullover angezogen zu haben. Diese Frau gab ihr das Gefühl, ihre komplette Uniform zu brauchen.
    Frau Sørensen konnte bestätigen, noch vor kurzem mit Agnes Vestavik gesprochen zu haben. Das genaue Datum wußte sie nicht mehr, aber es konnte keinesfalls länger als drei Wochen her sein. Sie wußte es noch so genau, weil sie sich über Agnes Vestaviks Anliegen gewundert hatte. Anfangs hatte sie überhaupt keine Auskunft erteilen wollen.
    »Man weiß ja nie«, sagte sie und spitzte vielsagend den Mund.
    »Hier kann doch jeder anrufen und sich als sonstwer ausgeben.«
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    Aber da der Direktor sie gebeten hatte, Agnes Vestavik, seiner alten Freundin, die gewünschte Auskunft zu geben. hatte sie sie zurückgerufen. Und ihre Fragen beantwortet.
    »Und worum ging es dabei?« fragte Hanne und faltete die Hände.
    Vielleicht lag es an diesem Ort. Gott war doch an einer christlichen Ausbildungsstätte sicher mehr anwesend als anderswo. Vielleicht lag es aber auch einfach daran, daß sie sich an jeden Strohhalm klammerte, um die Antwort auf die Frage zu erlangen, warum Agnes Vestavik eine Woche vor ihrer Ermordung in der Sozialschule der Diakonie angerufen hatte.
    Lieber Gott, dachte sie und schaute ihre Fingerknöchel an, die vor Erwartung weiß geworden waren. Bitte, mach, daß die Antwort so ausfällt, wie ich glaube.
    Er erhörte dieses Gebet. Sie bedankte sich nicht einmal. Sie hatte es viel zu eilig.

    Es war hellichter Tag. Er kam sich fast vor wie tot. So mußte es jedenfalls sein, wenn man fast tot war. Arme und Beine waren wie betäubt. Sein Kopf war ein Feuerball. Ansonsten war er eiskalt. Vielleicht konnte er sich deshalb kaum bewegen. Um ihn herum brummten die Autos, oft konnte er auch Stimmen hören. Er mußte weg von hier.
    Ihm wurde noch kälter, als er sich von den Müllsäcken befreit hatte, mit denen er zugedeckt gewesen war. Aber er konnte sich etwas besser bewegen. Zwei Möwen saßen auf der
    Containerkante und schauten auf ihn herab. Sie legten die Köpfe schräg und stießen lange, klagende Schreie aus. Vielleicht wohnten sie hier. Vielleicht hatte er ihr Haus besetzt. Er verjagte sie, aber sie wichen nur bis zum Parkhaus zurück. Außerdem starrten sie ihn weiter an und hörten auch nicht auf zu schreien.
    Endlich konnte er nus dem Container klettern. Er mußte sich auf dem Bauch über die Kante ziehen und sich mehr oder 235
    weniger herauswälzen. Er schlug ziemlich hart auf den Boden auf, aber das war jetzt auch egal. Langsam wischte er sich den ärgsten Schmutz ab, als ein Mann sich plötzlich aus dem Erdgeschoß des Parkhauses herausbeugte und seine Hilfe anbot.
    Er schüttelte den Kopf und schleppte sich davon.
    Er wußte nicht, wie viele Stunden er im Container gelegen hatte. Die meiste Zeit hatte er geschlafen. Oder zumindest gedöst. In seinen wenigen wachen Momenten hatte er einen Entschluß gefaßt.
    Er brauchte Hilfe. Er kam nicht allein zurecht. Aber es gab nicht viele, die ihm bisher wirklich geholfen hatten. Der Betreuer vielleicht, ein wenig zumindest, aber dann hatte er sich mit dem Jugendamt verschworen. Hatte ihn hintergangen.
    Und seine Mutter natürlich.
    Der Gedanke an seine Mutter versetzte ihm einen Stich und er spürte nur um so deutlicher, wie schlecht es ihm ging. Seine Haut prickelte, und seine Kopfschmerzen

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