Das Ekel von Datteln
den Gefallen und treiben Sie den Kollegen Brennecke auf. Ich fahre zur Wohnung der Toten. Wie hieß die Straße noch?«
»Ludwigstraße. Kennen Sie sich aus?«
»Ich habe eine Karte …«
Lohkamp legte auf, schnappte sich seine Cordjacke und steckte den Kopf durch die Wohnzimmertür.
»Ich muss mal weg …«
Seine Frau seufzte: Mit seinem Rückzug aus dem BKA hatte sie auf ruhigere Zeiten gehofft.
»Dauert’s lange?«
»Keine Ahnung …«
Auch das blieb sich gleich.
Recklinghausen fand Lohkamp trotz der schmucken Altstadt schon schlimm genug – aber in Oer-Erkenschwick hätte er nicht tot über dem Zaun hängen wollen. Das Einzige, was hinter dem Bindestrich noch lebte, war die Erinnerung an die ruhmreichen Jahre der Spielvereinigung in der Oberliga West. Aber die waren schon bei seiner Konfirmation so fern gewesen wie der Bauernkrieg.
Das Haus in der Ludwigstraße hatte fünf Etagen und musste in der Provinz schon als halber Wolkenkratzer gelten. Links davon gab es noch zwei Wohnhäuser mit Jugendstil-Fassaden, rechts davon eine Tankstelle.
Genau gegenüber mündete die schmale Agnesstraße; die Einfahrt wurde von zwei roten Ziegelsteinhäusern im Reiche-Leute-Stil der Dreißiger Jahre flankiert: Hochparterre, lange Steintreppe, die rückwärtigen Zimmer mit abgerundeten Außenwänden.
Lohkamp wendete vor dem Kinderheim, fuhr bis zum Rathaus zurück, drehte erneut und parkte den blauen Ascona auf dem Seitenstreifen ein Stück vor den Ampeln der Agnesstraße: Sonne im Rücken, Hauseingang im Blick.
Der Bau roch nach Geld. Unten ein auf sachliche Eleganz getrimmter Brillenladen und eine Apotheke, dazwischen der Eingang, alles ein Stück hinter die rote Ziegelfassade der oberen Stockwerke zurückgezogen.
Lohkamp wartete. Die erste Zigarette verglühte. Keine Spur von Brennecke. Er stieg aus und ging hinüber.
Beiderseits der Glastür eine weiße Schilderleiste: Ein Ärztesilo. Lohkamp trat näher und studierte die Aufschriften neben den Klingelknöpfen. Nur acht Wohnungen, die Hälfte davon unter dem Flachdach, waren privat genutzt. Den Namen R. Michalski fand er im dritten Obergeschoss, umgeben von einem Optiker, einem Frauenarzt und einem Zahnklempner.
Lohkamp stieg wieder ein. Dieser Brennecke ließ auf sich warten. Vielleicht wäre er besser erst ins Präsidium gefahren. Wenn die Bereitschaft den Kriminalmeister nicht auftreiben konnte, saß er hier wie bestellt und nicht abgeholt. Die Zeiten, in denen er Telefon im Wagen und einen Riesenapparat unter sich hatte, waren vorbei.
Vor Langeweile holte er die Straßenkarte des Kreises heraus. Die Ludwigstraße war offenbar Teil einer alten Landstraße, die von Waltrop über Meckinghoven und Horneburg nach Erkenschwick und von da aus über Oer nach Marl geführt hatte. Sie lag gleich neben der Innenstadt, war aber öde wie ein Feldweg.
Brennecke kam nach der dritten R 6. Als der weiße Fiesta vor ihm einparkte, atmete Lohkamp auf. Er stieg aus und ging auf den Langen zu. Im Haus gegenüber hatte er bis zu diesem Zeitpunkt noch keine Spur von Leben festgestellt.
»Um was geht es denn?«, fragte Brennecke.
Lohkamp erklärte es ihm.
»Mist. Warum müssen die Leute immer am Wochenende morden?«
Brennecke schüttelte missbilligend den Kopf. Er war achtundzwanzig und fast eins neunzig lang. Die kurze Kochtopffrisur, wie man sie Lohkamp als Schüler verpasst hatte, und die blau-grüne Jacke mit dem Rückenaufdruck ließen ihn wesentlich jünger erscheinen.
»Sieht aus, als ob sie alleine lebt«, meinte der Lange nach einem Blick auf das Namensschild.
»Vergangenheit«, korrigierte Lohkamp und drückte zweimal auf den kupferfarbenen Knopf. Nichts rührte sich. Eine Minute später versuchte Brennecke sein Glück. Er hatte auch keins.
Als Lohkamp schon abziehen wollte, öffnete sich die Haustür. Zuerst erschien der Kopf eines kläffenden Airdale-Terriers, dann eine Leine. Und an deren Ende hing ein Opa, für den schon ein Rehpinscher zu gefährlich gewesen wäre.
Lohkamp nickte dem Ende der Leine zu und wollte sich durch den Türspalt quetschen. Aber das Männlein blieb stehen und musterte die beiden voll Misstrauen.
»Wohin wollen Sie?«, fragte es. Die Stimme unterschied sich von der seines Kläffers nur um Nuancen.
»Jemanden besuchen«, grinste Brennecke. Männlein sah nicht so aus, als hätte ihm die Antwort gefallen. Aber ehe er sie weiter nerven konnte, löste der Hund das Problem auf seine Weise: Er lief los und zog die Leine und den
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