Das Ekel von Datteln
Bahnhofstraße entlang, in der sich die neue Hattinger Wache befand. In seinem Blickfeld lagen zwei Kneipen, aber keine kam ihm sonderlich einladend vor.
»Quatsch. Wir fahren zurück. In einer halben Stunde sitzt du zu Hause.«
Doch daraus wurde nichts.
Brennecke bretterte in Richtung Autobahn. Raus aus der City, runter in eine Senke, den Berg hoch, Slalom durch das nächste Dorf.
Er hatte es jetzt eilig und sah stur nach vorn. Er ignorierte die Silhouette der Henrichshütte, versagte sich einen Blick auf die Fachwerkhäuschen von Blankenstein und übersah tapfer den Wegweiser zum Burgrestaurant, wo es für Leute ab Lohkamps Gehaltsstufe stets ein Häppchen zu essen und ein Bierchen zu trinken gab. Und diese lästigen weißen Blechkreise mit dem roten Rand, in denen dick und schwarz eine 30 stand – die dachte er sich einfach weg.
Die rote Kelle aber war da.
Sie blinkte am Straßenrand auf, als sie wieder ins Ruhrtal stürzten, dem Katzenstein entgegen. Der kantige Kollege, der das Gerät durch die Luft schwenkte, sah nicht so aus, als übte er für eine Keulenkür in der Rhythmischen Sportgymnastik.
Auch das noch, dachte Lohkamp und stützte sich am Armaturenbrett ab. Der Parkplatz vor ihnen hätte eigentlich zum Bremsen völlig ausgereicht. Aber die Zufahrt war durch eine Reihe rotweißer Eisenpfosten so weit verengt worden, dass gerade noch eine Bergziege durchpasste.
Brennecke keilte den Wagen durch die Lücke und trat auf die Bremse. Das Letzte, was Lohkamp registrierte, war die Fachwerkfassade der Gaststätte Pilgrimshöhe. Sie kam schneller auf sie zu, als ihm lieb war. Er klappte die Wimpern zu und versuchte, an etwas Schönes zu denken.
Als die Staubwolke sich langsam senkte, bemerkte der Hauptkommissar dreierlei: dass er noch lebte, dass der Golf und die Kneipe unbeschädigt waren und dass neben ihnen ein grün-weißer Passat in Sonderausführung stand. Der Polizeiobermeister mit der Igelfrisur, der gerade heraussprang, war auch eine Sonderausführung: fett wie eine Frittenbude. Er riss die Tür auf, noch bevor Brennecke den Motor ausgestellt hatte.
»Bei Ihnen piept es wohl, Mann! Hier werden keine Rallyes gefahren …«
»Entschuldigen Sie, Herr …«
»Die Papiere!«
Brennecke nickte. Er stemmte seine Füße gegen das Bodenblech, drückte den Hintern hoch und fummelte seine Geldbörse aus der Hecktasche. Dann reichte er den Karton hinaus.
»Die Zulassung!«, bellte es draußen.
Erneuter Blick in das Portemonnaie – Fehlanzeige.
»Mist. Haben Sie das Ding eingesteckt?«
Nun begann auch Lohkamp zu suchen – unglaublich, wie viele Taschen man in seiner Kleidung finden kann! Dass die Papiere wie immer im Handschuhfach lagen, fiel auch ihm nicht ein.
Der Uniformierte schob sich eine Handvoll Gummibärchen ins Gesicht und sah ihm interessiert zu. Als er mit dem Mampfen aufhörte, war auch seine Geduld am Ende.
»Also, wat iss? Hammse ’ne Zulassung oder nich?«
»Klar«, tönte Brennecke. »In der Jacke!«
Er drehte den Hals nach hinten und wurde fündig: Seine Joppe lag tatsächlich auf dem Rücksitz.
Was er dann tat, war, wie sie später analysierten, eindeutig falsch. Am einfachsten wäre es gewesen, auszusteigen und das gute Stück mit einer völlig unkomplizierten Armbewegung aus dem Wagen zu holen. Aber Brennecke tat etwas anderes. Er stemmte sich erneut hoch und versuchte, seine Wirbelsäule in dieselbe Richtung wie den Hals zu drehen – was man, wäre es dem Einmeterneunzigmann in diesem VW-Golf Normalausführung tatsächlich gelungen, nur noch mit der Quadratur des Kreises hätte übertreffen können.
Doch Brennecke wagte es. Es knirschte und knackte im Gebälk, er ächzte und stöhnte, presste einen halben Hektoliter Schweiß durch die Poren und kam auch wirklich so weit voran, dass er mit den Fingerspitzen das lose Ende des Fadens fühlen konnte, mit dem seine Mutter ihm vor einer Woche einen Riss in der Schulternaht geschlossen hatte – doch vom Ziel, der Brieftasche, war er immer noch den mikroskopischen Bruchteil einer englischen Meile entfernt.
»Himmel und Arsch!«, bellte es draußen. »Soll ich hier Wurzeln schlagen?«
Selbst jetzt wäre es noch möglich gewesen, den Dingen einen ganz anderen Verlauf zu geben. Noch immer hätte Brennecke aussteigen und sein Vorhaben auf die anatomisch günstigste Art ausführen können. Aber aus einem später nicht mehr nachvollziehbaren Grund entschied er sich anders.
Mit einem Aufschrei, der eine Hundertschaft
Weitere Kostenlose Bücher