Das Ekel von Datteln
und versprach dem Herrgott eine Bienenwachskerze, wenn der Wagen um Mitternacht noch da stand.
Die Fenster der Kassenbude vibrierten: The Fall waren schon am Werk. Ein Muskelmann knöpfte ihm zwanzig Eier ab, dann stürzte sich Saale unter die Menschheit. Schon auf den ersten Blick sah er, dass er die falsche Uniform gewählt hatte: An diesem Abend war Schwarz angesagt.
Ein Hauch von Weltuntergang schwebte durch den Raum. Die Lichteffekte waren verhalten, die Bühnenshow blutleer, aber die Musik ging ihm so in Kopf und Bauch, dass zu seinem Glück nur noch eine fehlte: Helga.
Hoffentlich hat die mich nicht verarscht, dachte er. So, wie sie in der Firma herumlief, hätte er sie eher in der Abteilung »Seichtes« abgelegt: Modern Talking oder Grönemeyer, schlimmstenfalls Falco. Aber in Schwarz konnte er sie sich nicht vorstellen. Zwischen Treppe und Bierstand blieb er stehen. Hier war der beste strategische Punkt. Wer raus, aufs Klo oder nachgießen wollte, musste hier vorbei.
Die harten, schnellen Rhythmen und die runtergerotzten Sprüche der englischen Truppe ließen ihn den ganzen PEGASUS-Ärger vergessen. Kopf, Schultern und Knie gingen mit. Vor der Bühne machten ein paar Punks aus Langendreer auf Pogo, der Rest der Fan-Gemeinde wiegte allenfalls vornehm den Oberkörper.
Der alte Kinks-Hit Victoria war der Bringer. Der ganze Saal sang mit. Und dicht hinter Saale brach jemand fast in Tränen aus: »Weißte noch, Alter, die Kinks in der Gruga? Ray Davis und Dandy ? Mann, wat iss dat lange her …«
Bewundernd schaute Saale sich um: Zwei Enddreißiger hatten sich unter die Jugend gemischt. Einer von ihnen trug noch den Vollbart und die Latzhose, mit denen er schon achtundsechzig demonstriert hatte. Der Wehmütige, ein hochgewachsener Mensch mit kahler Stirn und messerscharfer Nase, war vom Outfit her etwas näher an der Neuzeit, aber sein Herz, das hatte der Stoßseufzer verraten, pochte noch im heißen Rhythmus der großen Jahre.
Irgendwo hatte Saale den Typ schon gesehen, aber es dämmerte ihm erst nach dem dritten oder vierten Blick: Der Daddy recherchierte Mordgeschichten für MARABO, war aber längst als Chefredakteur für das Verbandsblatt der Grauen Panther im Gespräch …
The Fall randalierten dem Ende entgegen. Saale bekam sechs Ellenbogen ins Kreuz und zwei Alt auf die Hose, bis ihn jemand von der Seite anquatschte: »Hallo!«
»Hey!«
Er starrte das Wesen neben sich gleichgültig an. Doch dann fiel der Groschen. Sie hatte ein Augen-Make-up wie nach einer Unter-Tage-Schicht, das blond gefärbte Haar stieß gel-gestärkt in den Himmel, der Aufkleber auf der nietenübersäten Lederjacke verkündete den Trip in die Gegenrichtung.
»Frau Kronenberger«, staunte Saale und grinste.
»Ich heiße Helga«, grinste sie zurück.
»Und ich …«
»Weiß schon: Holger der Regisseur, Drehbuchautor, Chefbeleuchter und Hauptdarsteller. Wofür sind eigentlich all die anderen Leute beim Film?«
Saale nahm’s leicht – diese Frau konnte ihn gar nicht beleidigen …
Das letzte Gitarrensolo, Gejohle, die Schlussakkorde, Beifall, Licht.
»Noch ein Bier nebenan?«
Helga nickte. Sie ließen sich zum Ausgang schieben und bogen in die Kneipe ab. An der Theke orderte er zwei Pils.
»Ich stehe echt unter Schock«, gestand er. »In der Firma siehst du aus, als könntest du kein Wässerchen trüben, und hier machst du einen auf Punk und Hölle.«
»Soll ich etwa so ins Büro gehen? Und was ist mit deiner Lederhose? Der schönen Blümchenkrawatte vom Montag …«
Das Gespräch nahm den üblichen Gang: Sie kauten das Konzert durch, hechelten ihre letzten Live-Erlebnisse durch und kippten ordentlich was weg.
Schließlich landeten sie doch bei Puth, Gellermann und Co.
»Aber das bleibt unter uns«, forderte sie. »Ich habe keine Lust, meinen Job zu verlieren …«
Saale schwor bei seiner Ehre, und sie erzählte aus dem Nähkästchen.
»Das Meiste kenne ich nur vom Hörensagen, vor allem von Ruth. Außerdem mache ich die Post auf, und da kann man sich dann vieles zusammenreimen …«
Puths Imperium pfiff, wie sie vermutet hatten, auf dem letzten Loch. Anfang des Jahres hatten die Steuerfahnder Verdacht geschöpft: Obwohl die Firma permanent pleite war, gewährten die Banken weiter Kredite in Millionenhöhe. Darauf wurden Bücher und Bilanzen geprüft. Resultat: Während Puth und Gellermann die Finanzbeamten Jahr für Jahr mit roten Zahlen zu Tränen rührten, hatten sie bei Bankdirektoren mit ihren angeblichen
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