Das Elbmonster (German Edition)
Herzen betont, dass ich ihm seinen spontanen Zornesausbruch niemals wirklich übel nehmen konnte, zumal er sich bald darauf bei mir reumütig entschuldigte. Aber der markante Vorfall selbst bewirkte eine bis dato unerwartete Richtungsänderung in meinem Leben.
Wie ging es danach weiter?
Selbstverständlich habe ich am nächsten Tag Vaters Anweisung strikt befolgt. Ich nahm die drei verbliebenen Bücher und brachte sie schon frühmorgens unserem Schulleiter. Seine jederzeit freundliche Sekretärin ließ mich auch anstandslos zu ihm gehen. Meine Aufregung war indessen nicht zu verbergen. Und bevor ich ihn überhaupt zu grüßen vermochte, empfing er mich, an seinem Schreibtisch sitzend, mit den ehrenden Worten: „Ach, unsere Sportskanone! Was treibt dich zu mir?“, wobei er bereits neugierig auf die Bücher schielte. Daraufhin stotterte ich sehr verunsichert den Satz: „Mein Vater meint, diese Schriften von Lenin und Stalin wären nicht gut für mich.“ „Bedauere, andere habe ich jetzt leider nicht“, war sein schlichtes Echo. Er sah mir prüfend ins Gesicht, zeigte mit der linken Hand auf den Konferenztisch und schwieg, was ich als Aufforderung zum Ablegen der Bücher und zum Gehen deutete. Ergo befolgte ich sein stilles Geheiß, ohne auf den Verbleib des vierten Bandes zu verweisen, und verabschiedete mich mit den Worten: „Danke und auf Wiedersehen, Herr Büttner!“, worauf er seinen Standardgruß „Freundschaft!“ erwiderte. Anschließend eilte ich spürbar doppelt erleichtert zum Russisch-Unterricht.
Erst Jahre später, nachdem mein einstiger Schulleiter bereits oberster Chef der Kreispionierorganisation von Meißen war und sich mit kritischem Blick auf meine Person anscheinend ziemlich sicher glaubte, dass er mir etwas Außergewöhnliches anvertrauen könne, sagte er mit sichtlichem Stolz:
„Ich habe mir während jener Minuten, als du mir die Bücher zurückbrachtest, fest geschworen, dich fortan gezielt unter meine Fittiche zu nehmen. Und wie ich nunmehr einschätze, ist es mir auch gelungen, dich in eine progressive Bahn zu lenken. Oder irre ich mich etwa?“ Nein, Erich, ich schulde dir fraglos in vielerlei Hinsicht aufrichtigen Dank“, war meine ehrliche Antwort (er hatte mir zuvor das vertraute Du angeboten).
Rückschauend muss ich dem Manne wirklich anerkennend zugestehen, dass er zeitlebens von der Idee eines humanen Sozialismus felsenfest überzeugt war und sich auch buchstäblich bis zu seinem letzten Atemzug dafür abmühte. So dürfte es kaum jemanden befremden, dass die meisten seelischen Wunden, welche ihm zugefügt worden sind, nicht vom angeblich überall lauernden „Klassenfeind“ stammten, sondern von seinen engstirnigen „Kampfgefährten“.
Zu dieser Sache gleich eine scheinbar nichtige, jedoch bezeichnende Episode:
Nachdem ich mein fünfjähriges Direktstudium zum Lehrer für Deutsch und Geschichte am Pädagogischen Institut in Dresden erfolgreich abgeschlossen hatte, erhielt ich meine erste Anstellung an einer Polytechnischen Oberschule unweit von Meißen.
Schon bald darauf empfand ich auch während meiner außerunterrichtlichen Tätigkeit große Freude, indem ich mit interessierten Mädchen und Jungen meiner Klasse über viele Wochen hinweg das wundervolle Kunstmärchen „Kalif Storch“ von Wilhelm Hauff einstudierte. Dies passte dem dortigen Parteisekretär ganz und gar nicht. Ihm missfiel das „klassenneutrale Stück“, wie er besonders mir gegenüber mehrfach betonte. Erich Büttner hingegen sorgte dafür, dass es anlässlich eines offiziellen Pioniergeburtstages (13. Dezember 1966) sogar im hiesigen Stadttheater Prämiere hatte. Dort waren nicht nur die Eltern der jungen Akteure hellauf begeistert.
Mein ehemaliges Idol in politischer Hinsicht war jedenfalls kein Sprücheklopfer und erst recht kein Drückeberger. Obwohl er gelegentlich selbst bittere Niederlagen einstecken musste, wäre ihm gewiss niemals in den Sinn gekommen, seinem Leitbild von einer gerechten Gesellschaft abzuschwören. Man hätte ihn garantiert auch zu keiner Zeit als skrupellosen Wendehals erlebt. Aber er ist ja schon lange tot, der geradlinige, fast legendäre Haudegen Erich Büttner. Nur meine Erinnerung an ihn lebt noch.
Ergo will ich freiheraus bekennen, dass seine beinahe leuchtenden Worte von einst, stets gepaart mit der festen Absicht, sie in Taten umzusetzen, nicht nur Abel und mich regelrecht fasziniert haben. Die meisten Schüler waren von ihm überaus angetan,
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