Das Elbmonster (German Edition)
Titel, blätterte ein wenig darin und überflog zugleich kleine Textpassagen (inzwischen konnte sie gut lesen!), bis sie schließlich mit unübersehbaren Sorgenfalten jedes Exemplar sachte übereinandergestapelt auf den Küchentisch legte. Gleich darauf nahm sie mich in ihre vertrauten Arme und hielt mich auch ziemlich lange fest, als wollte sie mich für immer vor einer unwägbaren Gefahr beschützen. Nach längerem Warten sagte sie mit auffallend leiser und bedrückter Stimme:
„Karcsi, ich fürchte, der Vater kann sich darüber nicht freuen.“ Dieser schicksalsschwere Satz hat sich unauslöschlich in meinem Bewusstsein eingebrannt. Ich vermag ihn nicht zu tilgen, denn genau so kam es dann auch. Nein, noch viel leidvoller!
Zu einer näheren Begründung ihrer seltsamen Bedenken konnte ich die gramerfüllte Mutter nicht überreden. Offenbar fand sie nicht die nötigen Argumente dafür, und so vertröstete sie mich besonders gütig auf Vaters Ankunft.
Nachdem unser stets fürsorglicher Hauptverdiener von seinem fraglos harten Lohnerwerb zur fortgeschrittenen Stunde sichtlich abgespannt heimkehrte, erfrischte er sich ein wenig, um hernach mit uns gemeinsam zu speisen. Anschließend verflüchtigten sich meine Geschwister hurtig. Ich hingegen verweilte noch in der Küche, denn ich war verständlicherweise bis aufs Äußerste auf seine Reaktion gespannt. Auch Abel blieb, um selbst zu vernehmen, was denn an der Sache eventuell anrüchig oder gar unheildrohend wäre.
Es dauerte nicht lange, bis Mutter sich entschloss, unser Oberhaupt auf meine sportlichen Leistungen zu verweisen.
„Na, großartig! Mein Glückwunsch, Karcsi!“, war seine erste Entgegnung. Dann reichte sie ihm vorsichtig ein Exemplar von den vier Büchern. Es war das Schmalste von allen.
Schon ein kritischer Blick auf den Titel genügte ihm, um plötzlich wutentbrannt aufzustehen, es in mehrere Stücke zu reißen und diese in die Feuerstelle des Herdes zu werfen, wo noch lodernde Glut herrschte. Gleich darauf meinte der Vater schroff und laut: „Solche Teufelswerke dulde ich nicht in meiner Familie!“
Auch die anderen drei Bücher nahm er kurz in Augenschein, zerriss und verbrannte sie jedoch nicht, sondern befahl mir unmissverständlich: „Du nimmst diese Schwarten morgen wieder mit, gibst sie dem Schulleiter persönlich und sagst ihm, wir wollen mit solchem Dreckszeug nichts zu tun haben!“ Dann fügte er belehrend und spürbar wehmütig hinzu: „Du sollst wissen, Karcsi, und auch du, Abel: Es waren die Kommunisten, die uns wie streunende Hunde aus unserer angestammten Heimat verjagt haben. Vergesst das niemals!“
Mir schien, er konnte sich seiner bitteren Tränen nicht mehr erwehren, denn er verließ schlagartig den Raum. Die psychischen Wunden, welche ihm reichlich zwei Jahre zuvor durch die brutale Ausweisung zugefügt worden sind, waren offenbar noch zu frisch, als dass er mir gegenüber hätte vielleicht etwas feinfühliger reagieren können.
Hierzu sofort eine passende Ergänzung:
Im September 2010 gab es bei uns in Meißen wieder ein Treffen von Ungarndeutschen aus Mágocs. Einige kannten meinen Vater von früher (er wählte 1969 den Freitod).
Und wie es das Schicksal wollte, erfuhr ich von einem sichtbar hochbetagten Herrn erstmals den wahrscheinlich maßgeblichen Grund für unsere brutale Aussiedlung.
Er könne sich noch sehr gut daran erinnern, sagte der als direkter Zeuge eines fatalen Vorfalls durchaus glaubwürdige Senior, wie meinem Vater während einer heftigen Auseinandersetzung mit zwei Beamten der neuen Macht plötzlich die Sicherung durchbrannte und er den Männern ins Gesicht schrie: „So wie ihr Kommunisten aufgetaucht seid, so werdet ihr eines Tages auch wieder verschwinden! Darauf könnt ihr euch verlassen!“
Endlich ist mir einiges verständlich! Wie sonst wäre auch zu erklären, dass wir, obzwar bettelarm, gnadenlos vertrieben worden sind, alle unsere Verwandten hingegen bleiben durften, die wiederum teils etwas begütert waren?
Um das Bild einigermaßen abzurunden, will ich meine geschätzte Leserschaft auch davon in Kenntnis setzen, dass politische Themen innerhalb unserer elterlichen Familie weitgehend tabu waren, erst recht hier in Deutschland, allenfalls ursächlich den seelischen Zerwürfnissen meines Vaters geschuldet. Insbesondere daraus resultierte wohl auch meine grenzenlose Fassungslosigkeit und Enttäuschung nach der bezeichnenden Szene vom Juni 1950. Dessen ungeachtet sei aus tiefstem
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