Das elektronische Glück
Gedanken wandern zurück zu den Feldern. Ihm ist klar, daß sie das Ende bedeuten, doch Irgendwie bedrückt ihn das kaum. In zehn Jahren Bergwerk gewöhnt man sich an den Tod. Dennoch interessiert es Arp, wie es sein mag, dort, in der Baumwolle.
In seiner ganzen Haftzeit ist das der erste Tag ohne Arbeit. Sicher dehnt er sich deshalb so lang. Arp würde sich gern hinlegen und schlafen, doch das geht nicht, selbst mit Attest. Dies ist ein Zuchthaus und kein Sanatorium.
Seine Mitgefangenen kommen aus dem Stollen, und in den Karbolgeruch mischt sich das süßliche Aroma der Desaktivierungsflüssigkeit. Jeder, der mit Uranerz umgeht, duscht vorbeugend. Eine der Maßnahmen, die die Lebenserwartung der Inhaftierten erhöhen.
Arp findet seinen Platz in der Kolonne und geht mit den anderen zum Essen.
Beim Frühstück und Mittag drücken die Posten ein Auge zu, was das Redeverbot betrifft. Mit vollem Mund spricht man sowieso nicht viel.
Arp löffelt schweigend seine Portion und wartet auf das Kommando zum Aufstehn.
»Nimm!«
Wieder reicht ihm dieser Irre seine halbe Brotration.
»Ich will nicht.«
Das Kommando zum Antreten. Erst jetzt merkt Arp, daß alle ihn anstarren. Bestimmt wegen des roten Kreuzes auf seinem Rücken. Ein Todeskandidat weckt immer Neugier.
»Na los, Beeilung!«
Damit ist Arps Nachbar gemeint. Seine Reihe steht schon, er aber sitzt immer noch am Tisch. Arp rafft sich gleichzeitig mit ihm auf, und als er an seinen Platz geht, dringt kaum vernehmbar an sein Ohr: »Es gibt eine Möglichkeit zur Flucht.«
Arp tut, als hätte er nichts gehört. Im Lager wimmelt es von Spitzeln, und ihm ist ganz und gar nicht nach Folter. Dann schon lieber die Baumwollfelder.
Bisweilen schwillt die Stimme zum Schrei, von dem die Schläfen schmerzen, dann wieder ebbt sie ab zu leisestem Flüstern, das einen zwingt, das Gehör anzuspannen. Sie dringt aus dem Lautsprecher am Kopfende der Pritsche. Die abendliche Psychomassage.
Der bis zum Überdruß bekannte Bariton legt den Gefangenen dar, wie tief sie gesunken sind. Vor dieser Stimme kann man weder davonlaufen noch sich verstecken. Sie läßt sich nicht aus dem Bewußtsein drängen wie das Geschrei der Aufseher. Auch wenn es scheinbar gelungen ist, an etwas anderes als das Lagerleben zu denken, zwingt plötzlich die veränderte Lautstärke erneut zur Aufmerksamkeit. Und das dreimal täglich: abends vor dem Einschlafen, nachts im Schlaf und früh, fünf Minuten vor dem Wecken. Dreimal, denn dies ist ein Zuchthaus und kein Sanatorium.
Arp liegt mit geschlossenen Augen und will noch einmal über die Baumwollfelder nachdenken. Die Massage ist zu Ende, doch nun stört ihn rhythmisches Klopfen an die Trennwand zur Nachbarzelle. Wieder dieser Psychopath.
»Was willst du?« raunt Arp in seine zum Rohr geformten Hände, die er gegen die Wand drückt.
»Geh aufs Klo.«
Arp versteht selbst nicht, was ihn dazu bringt, hinunterzusteigen zu der Pforte, hinter der er die Spülung rauschen hört.
In der Toilette ist es heiß, so heiß, daß man es nicht länger als zwei Minuten aushält. Arp ist schweißgebadet, noch ehe der Neue auftaucht.
»Möchtest du fliehen?«
»Hau ab!«
Arp Sumbi ist ein alter Hase, er kennt die Tricks der Schnüffler.
»Hab keine Angst«, flüstert der andere schnell, »ich bin vom Befreiungskomitee. Morgen versuchen wir, eine erste Gruppe von Gefangenen hinauszuschmuggeln und an einen sicheren Ort zu bringen. Du kannst dabei nichts verlieren, ihr bekommt Gift. Mißlingt die Flucht…«
»Was dann?«
»… schluckst du das Gift. Das ist immerhin besser als der Tod auf den Feldern. Einverstanden?«
Zu seiner eigenen Überraschung nickt Arp.
»Instruktionen kriegst du früh, im Brot. Sei vorsichtig.«
Arp nickt wieder und geht hinaus.
Das erste Mal seit zehn Jahren ist er so in Träume vertieft, daß die zweite und dritte Massage ihn nicht erreichen.
Arp Sumbi steht als letzter in der Frühstücksschlange. Er muß an ihrem Ende stehen. Diejenigen, die von der Arbeit befreit sind, erhalten ihr Essen zuletzt. Der langaufgeschossene Kriminelle, der die Suppe ausgibt, mustert Arp und wirft ihm grinsend ein Stück Brot hin, das etwas abseits gelegen hat.
Nachdem Arp seine Suppe gegessen hat, zerkaut er vorsichtig das Brot. Da ist sie. Er schiebt die Papierkugel in seine hohle Wange.
Nun muß er warten, bis die Männer zur Arbeit gehen.
Das Kommando zum Aufstehen. Arp verläßt den
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