Das elektronische Glück
Speiseraum am Schluß der Kolonne. Beim Quergang wendet er sich nach links. Die anderen marschieren geradeaus.
Hier, hinter der Biegung, ist Arp verhältnismäßig sicher. Der Tagesdienst macht die Baracken sauber, für die Ablösung der Wache ist es noch zu früh.
Die Instruktion ist sehr kurz. Arp liest sie dreimal, und als er überzeugt ist, sich alles gemerkt zu haben, knüllt er das Papier wieder zusammen und verschluckt es.
Jetzt, da er handeln soll, packt ihn Angst. Er wird unschlüssig. Der Tod auf den Feldern scheint ihm willkommen im Vergleich zur drohenden Folter.
Das Gift!
Die Erinnerung an das Gift beruhigt ihn sofort. Tatsächlich, was hat er letztlich zu verlieren?
Doch die Angst, eine eindringliche, ekelhafte, zähe Angst, greift ihn erneut, als er dem Posten an der Zonengrenze seine Arbeitsbefreiung vorweist.
»Wohin?«
»Zum Arzt.«
»Geh!«
Arps Knie werden weich. Mühsam schleppt er sich den Gang entlang, spürt im Rücken die Gefahr. Gleich wird man ihn anrufen, ihm eine MPi-Garbe nachschicken. In solchen Fällen zielt man auf die Beine, denn auf Flucht steht Tod unter der Folter. So eine Lehrvorführung darf man den Gefangenen nicht ersparen, dies ist ein Zuchthaus und kein Sanatorium.
Die Kurve!
Arp biegt um die Ecke und preßt sich an die Wand. Sein Herz schlägt bis zum Hals, er hat das Gefühl, im nächsten Moment diesen bebenden Klumpen zusammen mit dem Bitteren auszuspeien, das aus seinem Magen hochsteigt. Kalter Schweiß bricht ihm aus. Die Zähne klappern aufeinander, es klingt wie Trommelwirbel. Unter solchen Trommelschlägen führt man die gefaßten Flüchtlinge zur Hinrichtung.
Es dauert fast eine Ewigkeit, bis er sich entschließt weiterzugehen.
Hier irgendwo in einer Nische müssen die Müllcontainer sein. In Gedanken wiederholt Arp noch einmal die Instruktion. Wieder kommen ihm Zweifel. Wenn nun alles fingiert ist und sie ihn fertigmachen, sobald er im Container sitzt? Er war ein Idiot, er hätte sich nicht auf die Sache einlassen sollen, solange er das Gift nicht hat. Ein Strohkopf! Am liebsten würde er seinen Schädel gegen die Wand schlagen. Daß er dem erstbesten Provokateur an die Angel gehen mußte!
Da sind die Container. Neben dem linken hat jemand Malerböcke stehenlassen. Alles wie auf dem Kassiber. Arp ist unentschlossen. Am richtigsten wäre es wohl, umzukehren.
Plötzlich hört er laute Stimmen und Hundegebell. Die Streife! Zum Nachdenken bleibt keine Zeit. Mit unerwarteter Leichtigkeit schwingt sich Arp auf die Böcke und von dort in den Container.
Die Stimmen kommen näher. Arp hört das Hecheln des Hundes, der an der Leine zerrt, und den Tritt beschlagener Stiefel.
»Kusch, Gar!«
»Im Container ist jemand.«
»Ratten, hier gibt's 'ne Menge davon.«
»Nein. Bei Ratten bellt er anders.«
»Unsinn! Gehen wir. Und beruhige ihn.«
»Still, Gar!«
Die Schritte entfernen sich.
Jetzt kann Arp sich in seinem Schlupfwinkel umsehen. Der Container ist nur viertelvoll. Kein Gedanke, daß man hinausklettern könnte. Bis zum oberen Rand ist es doppelt mannshoch. Arp fühlt die Wand ab und entdeckt dabei die beiden kleinen Löcher, die auf dem Kassiber erwähnt waren. Sie liegen in der eingestanzten Aufschrift »Arbeitslager«, die um den Container läuft. Durch diese Löcher muß Arp atmen, wenn der Deckel geschlossen ist.
Wenn der Deckel geschlossen ist… Auch so fühlt sich Arp in der Falle. Wer weiß, wie dieses Abenteuer endet. Und was ist das für ein Befreiungskomitee? Im Lager war nichts von ihm zu merken. Vielleicht sind es die Leute, die ihm seinerzeit beim Desertieren halfen? Es war ein Fehler, daß er ihre Warnung in den Wind schlug und zu seiner Mutter ging. Dort schnappte man ihn dann auch. Ware er nicht so dumm gewesen, hatte alles anders kommen können.
Das Quietschen von Rädern und wieder Stimmen. Arp blickt durch eine der Öffnungen und beruhigt sich. Zwei Gefangene bringen einen Kübel Abfall. Bestimmt Diensthabende. Sie haben keine Eile, hocken sich auf ihren Karren und rauchen einträchtig eine Kippe, die jemand von der Wache weggeworfen hat. Arp sieht die fahlen Rauchfaden, und ihm läuft das Wasser im Mund zusammen. Haben die Leute ein Glück!
Aus dem Zigarettenstummel ist alles herausgeholt. Der Kübel wird hochgezogen. Das Seil, an dem er hängt, läuft über einen Block, der sich direkt über Arp befindet. Arp schützt seinen Kopf mit den Händen. Der Kübelinhalt fällt
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