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Das elektronische Glück

Titel: Das elektronische Glück Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dieverse Autoren
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als hätte er Zahnschmerzen. Sein Gesicht zeigte eine Leidensmiene.
     »Stopp!« schrie ich.
     Der Alte und Schurotschka verstummten, vor Erregung zitternd. Arsik kam zu mir geschritten und redete fast flehentlich auf mich ein, als wollte er mich von etwas überzeugen, wovon ich keine Ahnung hatte: »Nein, nicht doch, so nicht! Er ist nicht schuld daran, daß er so geworden ist. Er hat auf diese Weise gelebt und ist dabei alt geworden. Ich habe kein Recht, sein ganzes Leben zu negieren, nicht wahr, Gescha? Jeder Mensch muß die Überzeugung haben, daß er würdig lebt. Aber er muß auch daran zweifeln, muß sich befragen. Dann schärft sich sein Gewissen. Es ist wie ein Rasiermesser – man muß es von beiden Seiten schärfen. Wer meint: Ich lebe richtig, ich bin ein Prachtkerl, ich kann alles besser als andere – der wird stumpf. Wer sich aufgibt, sich gehenläßt – nach uns die Sintflut, man lebt nur einmal –, der zerbricht… Habe ich recht?«
     »Hör auf«, sagte ich. »Setz dich. Alle bitte setzen! Wir müssen miteinander reden.«
     Alle setzten sich. Ich machte eine Pause, damit die Kollegen Atem schöpfen konnten, und begann. »Wir wollen mal klarsehen«, sagte ich. »Womit befassen wir uns hier? Wir haben uns mit Wissenschaft zu befassen. Mit Wissenschaft und nicht mit Seelenrettung, Liebesintrigen, moralischen und unmoralischen Handlungen, Auseinandersetzungen über Pflichtgefühl und Sittlichkeit. Das liegt außerhalb der Kompetenz der Wissenschaft.«
     »Gescha, du irrst dich«, wandte Arsik ein.
     »Unterbrich mich nicht. Du kannst später reden… Ich sehe keinen Grund, einander Vorwürfe zu machen. Jeder tut seine Arbeit. Ignati Semjonowitsch auf seine Weise und Arsik auf andere… Wichtig ist das Ergebnis.«
     Ignati Semjonowitsch erhob sich, trat zu mir und reichte mir eine Klemmappe. Drauf stand: I. S. Arnautow, A. N. Tomaszewicz. Optische Mnemokonstruktion. Wirkungsprinzip und Berechnung der Elemente.
     »Vor allem das Ergebnis«, sagte Ignati Semjonowitsch.
     Ich nahm einen Kugelschreiber und machte auf der Mappe eine Korrektur, ein Umstellungszeichen, das oben den Namen von Ignati Semjonowitsch umfaßte und unten den von Arsik. Offensichtlich war unserem Alten das Zeichen gut bekannt, denn er sah mich mißbilligend an.
     »Im Namen der Gerechtigkeit«, erklärte ich.
     »Sie haben sich verschworen, mich zu schikanieren!« kreischte Ignati Semjonowitsch. Er faßte sich pathetisch an sein Herz und forderte dann aus der Jackentasche ein Röhrchen Beruhigungstabletten zutage.
     »Ignati Semjonowitsch, setzen Sie sich«, sagte ich ruhig. »Führen wir unser Gespräch über das moralische Klima im Labor fort. Das Wort hat Arsik. Ich würde gern wissen: Warum geht bei uns alles durcheinander? Das interessiert mich einfach.«
     »Ich beneide dich um deinen Humor«, sagte Arsik. »Mir ist traurig zumute, Gescha. Ich werde nichts sagen.«
     »Gut. Dann laßt uns weiterarbeiten«, schlug ich vor.
     »Unter solchen Bedingungen weigere ich mich weiterzuarbeiten«, erklärte Ignati Semjonowitsch.
     Da ging Arsik zu dem Alten, fiel vor ihm auf die Knie und berührte mit der Stirn seine Hand. Wahrhaftig, das hat er getan. Ich war drauf und dran loszulachen.
     »Verzeihen Sie mir, Ignati Semjonowitsch. Bitte!« sagte Arsik.
     Ignati Semjonowitsch sprang vom Stuhl auf, setzte sich wieder, versuchte, die Hand wegzuziehen, und dann fing er an, hilflos, greisenhaft am ganzen Körper zu zittern. Schließlich wandte er sich ab. Seine Lippen zuckten krampfhaft.
     »Schon gut…«, brachte er mühsam heraus.
     Der Rest des Tages verlief in völliger Stille. Wir fürchteten uns, einander in die Augen zu sehen. Ich weiß nicht, warum. Um siebzehn Uhr fünfzehn ging Ignati Semjonowitsch nicht nach Hause. Das geschah zum erstenmal. Er saß am Tisch und exzerpierte. Kurz danach gingen Arsik und Schurotschka. Sie verließen das Labor wie das Zimmer eines Schwerkranken. Der Alte blieb sitzen. Ich nahm meine Aktentasche, verabschiedete mich und ging ebenfalls.
     Langsam schlenderte ich in Richtung meines häuslichen Herdes. Es zog mich nichts dorthin. Ich setzte mich am Gehsteig auf eine Bank. Mir war nach Rauchen zumute. Vor einigen Jahren hatte ich das Rauchen aufgegeben, um mein Leben zu verlängern. Das hatte ich bewußt getan. Jetzt wollte ich unbewußt rauchen. Verschämt bat ich einen Passanten um eine Zigarette.
     Etwas im wohlgeordneten System der Dinge war zerbrochen oder begann zu

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