Das elfte Gebot
Liebe am Morgen sagt der Moralkodex nichts – höchstens darüber, wie man es überhaupt anstellt“, erwiderte Pete.
Seltsamerweise fand Boyd Petes Vorschlag gar nicht so schlecht. Die gegenwärtigen Anstands- und Sittenrichter, die den Moralkodex bestimmten, schienen genau zu wissen, daß der Reiz zunahm, wenn man etwas mit Hindernissen versah, ohne es undurchführbar zu machen.
In Windeseile zog er sich an und eilte nach unten, wo Ellen auf ihn wartete. Er war unsicher gewesen, ob das vereinbarte Treffen noch galt, und hatte nicht gewußt, wie er es herausfinden sollte. Wie er sich jetzt überzeugen konnte, hatte sie Wort gehalten.
„Mort bestand darauf, Sie zu sehen“, begrüßte sie ihn. Ihre Lippen verzogen sich, und sie seufzte. „Ich kam früher, weil ich nicht die feierliche Messe in unserer Kirche versäumen wollte. Im Anschluß daran gibt es noch die Prozession zum Tag der Mutter von St. Bonaforte zu sehen. Sie haben doch nichts dagegen, oder?“
Er hatte nicht einmal etwas dagegen, als er merkte, daß sie zu Fuß dorthin gehen wollte. Boyds Beine wurden zunehmend kräftiger, und er hatte inzwischen keine Mühe mehr, mit ihr Schritt zu halten. Obendrein war es ein wunderschöner Morgen, ungetrübt von den Menschen und dem Elend, in dem sie lebten. Der Himmel strahlte klar und tiefblau, gekrönt von einer goldenen Morgensonne. Als sie an der Ecke anlangten, an der Ellen aus der Rikscha gestiegen war, schüttelte sie den Kopf, weil er in die Straße einbiegen wollte.
„Ich wohne in Wahrheit nicht hier“, erklärte sie ihm. „Ich wollte einfach nicht, daß Harry mich dorthin fuhr, wo ich wirklich wohne. Es wäre für uns alle nicht sicher gewesen, bevor man nicht gewußt hätte, daß ich Morts Schwester bin. Boyd, wenn Sie nicht wollen, müssen Sie nicht mitkommen, ja?“
Er faßte sie am Arm und sie kamen in ein Fabrikviertel, dessen Gebäude ziemlich alt und einst mit großen Zwischenräumen gebaut worden waren. Jetzt waren diese Zwischenräume mit heruntergekommenen Baracken und spärlich abgedeckten Erdhöhlen ausgefüllt.
Hinter der Ecke eines der größeren Gebäude schossen eine Handvoll Halbwüchsiger hervor und jagten mit viel Geschrei hinter einem Geschöpf her, das Boyd schließlich als eine fette graue Ratte identifizierte. Das Tier verkroch sich unter einem Treppenabsatz, flitzte auf der anderen Seite wieder heraus, und weiter ging die Jagd. Sie sausten hinein in eine schmale Lücke zwischen zwei Fabrikgebäuden, aus der begeisterte Schreie erschollen. Einer der Jungen tauchte wieder auf, in den Händen die erschlagene Ratte. Plötzlich drangen Schmerzensschreie aus der Passage hervor.
„Da sind noch mehr! ’ne ganze Menge!“
Die Schreie brachen ab und wurden von einem hohen Gekreische ersetzt. Das waren keine Ratten! Boyd stürzte los, als im selben Moment zwei Jungen herauskamen, die aus mehreren Wunden bluteten. Sie schnappten sich herumliegende Trümmerteile, um sie als Schlagwerkzeuge zu benutzen, aber Boyd war schon bei ihnen. Das eindringende trübe Licht zeigte ihm, daß die schmale Passage in einer Sackgasse endete, abgeschlossen mit einer hohen Ziegelmauer. Am Boden vor dieser Mauer lag, immer noch kreischend, der kleinste der Jungen, umzingelt von grell quiekenden und nach ihm schnappenden Ratten.
Boyd wußte aus alten Geschichten, daß in die Enge getriebene Ratten gefährlich werden konnten, aber jetzt war keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Er stürmte nach vorn und trat wild mit seinen festen Schuhen um sich, schleuderte die Tiere beiseite und trampelte auf ihnen herum. Er merkte, wie sich die Biester gegen ihn wandten, aber er war für sie ein weitaus zäherer Gegner als ein schwacher, barfüßiger kleiner Junge. Quiekend zogen sie sich widerstrebend zurück und verschwanden irgendwo durch ein Loch.
„Holt einen Arzt!“ rief er den anderen Jungen zu.
„Quatsch!“ widersprach ein Bengel, der sich wieder herangewagt hatte und sich seinen Kumpanen ansah. „Is’ zwecklos. Der is’ mausetot, braucht höchstens ’n Priester. Hab’s ihm oft genug gesagt: Schnappen und – rums eins aufs Dach. Denkste! Umgekehrt – hat’s ihn selbst erwischt. – Sagen Se mal, was lungern Se eigentlich hier rum? Prügel haben?“
Er wollte gerade antworten, als ihn ein Warnruf Ellens verstummen ließ. Im selben Augenblick ging auch schon der ziemlich kräftig gebaute Junge mit einem dicken Knüppel auf ihn los.
„Werd’s Ihnen geben – ankommen und sich
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