Das elfte Gebot
Damit war die Messe zu Ende, und die Teilnehmer strömten aus der Kirche hinaus.
Ellen blickte bestürzt auf ihre Handflächen. „Es wollte nicht bluten“, beteuerte sie. „Ich habe es immer wieder versucht, aber es hat nicht geblutet.“
„Ich verstehe nicht“, sagte Boyd. „Meinen Sie etwa, Sie wollten, daß es blutet?“
Sie nickte entschieden. „Aber ja, natürlich. Wenn es blutet, bedeutet das, daß die Mutter diejenige, von der sie das Blut empfängt, segnet. Und ich wünsche mir doch so sehr noch in diesem Jahr einen Jungen!“
„Aber Sie sind doch gar nicht verheiratet! Wissen Sie, Ellen, ich will zwar nicht meine Nase in Ihre Angelegenheiten stecken, aber wie Sie es schaffen wollen, dennoch ein Kind zu empfangen, müssen Sie mir schon verraten.“
„Darauf gibt es eine Antwort. Um die aber zu verstehen, müßten Sie an einem Beisammensein der Evangelisten teilnehmen“, erwiderte sie. Kummervoll sog sie an der trockenen Schramme in ihrer Handfläche und zuckte dann die Schultern. „Tja, was soll man machen, mein Glaube ist wohl nicht tief genug. Du liebe Güte, Boyd, ich glaube, wir müssen uns jetzt aber beeilen, wenn wir noch einen guten Zuschauerplatz entlang der Kathedralenallee haben wollen. Die Prozession sollten Sie sich wirklich nicht entgehen lassen.“
Dessen war sich Boyd nach allem, was er eben erlebt hatte, nicht mehr so sicher. Er folgte jedoch ihrer Führung. Menschen strömten schon in Massen über die Straßen hin zur Kathedrale. Mehrfach hörte Boyd den Ruf „Achtung, Taschendiebe!“, worauf sich Männer in dunkelblauen Uniformen mit erhobenen Schlagstöcken ins Getümmel stürzten. Einmal sah er sie einen kläglich dreinschauenden, mickrigen Kerl abfuhren, der vehement dagegen protestierte.
„Er hat heute Glück“, erzählte ihm Ellen. „Man wird ihm nur eine Hand abhacken. Selbst die Justiz zeigt Gnade am Festtag zu Ehren von St. Bonaforte. Gewöhnlich verliert ein Dieb beide Hände.“
„Ich denke, es gibt auch noch die Möglichkeit der wiedereingeführten Auspeitschung und Prügelstrafe?“ meinte Body sarkastisch.
„Klar“, antwortete sie. „Verbrecher müssen abgeschreckt werden. Das sehen Sie doch auch ein, nicht wahr?“
Da war Boyd völlig anderer Meinung, aber offenbar gab es hier weder Einrichtungen, um Kriminelle einzusperren, noch die Möglichkeit einer Behandlung ihrer psychischen Defekte. Die Häufigkeit von Taschendieben in der Menge bewies allerdings, daß die vorgesehene Strafe sie offenbar nicht von der Tat abschreckte.
Sie erreichten noch rechtzeitig die Kathedralenallee, um einen guten Zuschauerplatz innerhalb eines mit weißen Linien abgegrenzten Bereichs zu finden, worüber Ellen sich sehr freute. Fliegende Händler mit Eßwaren und Getränken zogen vorüber, und Modeschmuck und Andenkenartikel wurden überall feilgeboten. An verschiedenen Stellen spielt en Musikgruppen, und Akrobaten führten ihre Kunststücke vor und ließen danach den Hut herumgehen. Über allem lag die Atmosphäre eines einzigen Karnevals. Ellens Augen funkelten im fieberhaften Glanz eines kleinen Mädchens, welchem die unglaublichen Mengen an matschigen Pilzbrötchen mit gepanschter Fischmassefüllung unfaßbar erschienen.
Da erklang von weitem auf der Allee Beifallsgeschrei, und alle Leute lehnten sich vor, um zu sehen, was dort los war. Boyd konnte nicht mehr als einen Wirrwarr aus Farben und Bewegung ausmachen, der sich langsam, mit einer Geschwindigkeit von kaum mehr als einem Kilometer in der Stunde, vorwärts schob. Dennoch brandete die Begeisterung zu fast unerträglicher Lautstärke hoch. Und dann sah er, was dort ankam.
Großartige Festwagen, prächtig bemalt mit Szenen aus der Schrift und dem Leben Bonafortes, von denen eine, die vermutlich die Atomkatastrophe darstellte, besonders ins Auge fiel. Die Wagen schienen auf riesigen Transportgestellen zu rollen, die so schwer waren, daß sie nur von langen Reihen von Männern vorwärts bewegt werden konnten.
„Dort … sehen Sie nur … das blausilberne Füllhorn, das sich von der Kirche her ergießt – das kommt aus unserem Viertel!“ schrie Ellen begeistert.
„Das mit den Ratten?“ fragte Boyd.
Sie nickte. „Dies Jahr können sie’s schaffen. Im letzten Jahr konnten die Männer den Wagen nicht bis zum Ende der Strecke ziehen, um in die Weitung zu kommen. Gewinnen können wir nicht – das tut immer ein reicher Stadtteil. Aber es ist eine Ehre, den Wagen von einem Ende der Kathedralenallee bis zum
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