Das elfte Gebot
Einstichstelle, um jede weitere Blutung zu unterbinden. „Das war’s schon“, sagte er. „Die Lebensmittel gehören euch.“
Er sah nicht zurück, als sie darüber herfielen. Er wurde das Gefühl nicht los, daß seine blaue Kleidung und Robe an auffallender Neuheit verloren hatte.
Niemand behinderte ihn am nächsten Tag im Laboratorium, als er sich ein normales Mikroskop entlieh und in der Fachbibliothek herumstöberte, bis er das geeignete Buch mit Farbabbildungen von Blutpräparaten aufgestöbert hatte. Obwohl kein Experte, hatte er diesmal die Probe sachgemäß konserviert, so daß auf den Objektträgern allerhand zu erkennen war.
Mit den Leukozyten, auch weiße Blutkörperchen genannt, war offenbar alles in Ordnung. Leukämie schied also aus. Die Anzahl der kleinen Körperchen jedoch, der Wächter des Blutkreislaufs, befand sich weit unter dem Durchschnitt. Irgendeine unbekannte Kraft vernichtete sie innerhalb des Blutkreislaufs dieser armen Menschen oder aber hinderte das Knochenmark an ihrer Neubildung. Seiner Schlußfolgerung nach befand sich die Minderzahl der Körperchen noch gerade oberhalb jener Grenze, ab der die unmittelbare Gefahr einer totalen Blutung aller inneren Organe bestand. Andererseits war kein Mensch bei dem Grad von Haargefäßblutungen, die er gesehen hatte, in der Lage, lange zu leben.
All dies ähnelte einer früher seltenen Fehlfunktion, von der er in den medizinhistorischen Büchern seiner Großmutter gelesen hatte – und zwar einer von sich aus entstehenden Fehlfunktion der Thrombozyten, die recht häufig mit starken Dosen eines kortisonhaltigen Medikaments zum Stillstand gebracht worden war.
„Na, wie klappt’s?“ erklang Bens Stimme hinter ihm. Als er sich umwandte, sah er ihn im Türrahmen stehen und ihn beobachten.
„Ganz prima, denke ich“, antwortete Boyd. „Ein kleines Projekt in Eigeninitiative. Langsam muß ich auch dem zustimmen, was Sie über das medizinische Niveau auf der Erde gesagt haben.“
Ben nickte ihm zu und ging zurück an seine eigene Arbeit, Boyd seinen Theorien überlassend. Alles schien sich jedoch zu bestätigen. Er unterbrach seine Arbeit, um ein Mittagessen in einer nahe gelegenen Cafeteria, ebenfalls inmitten der unterirdischen Stadt unter der Kathedrale, einzunehmen. Danach begab er sich in die Arzneimittelausgabe, wo er eine Anforderung über Kortison einreichte. Wenn er einen Bluter erfolgreich behandeln konnte und nachweisen, womit …
„Tut mir leid, Kortison haben wir nicht, Dr. Jensen“, informierte ihn der Ausgebende. Auch bei allen anderen Steroidhormonen, die er als Ersatz aufgeführt hatte, erhielt er den gleichen Bescheid. Der Ausgebende runzelte bei jedem Posten immer mehr die Stirn. „Wir lagern keinerlei Pharmaka dieser Art. Sie stehen nicht auf der Liste!“
Boyd seufzte und gab auf. „Wie ist es mit Cholesterol?“
Das hatte der Mann vorrätig, obwohl er anfänglich irgendwie Bedenken hatte. Boyd forderte ein ansehnliches Quantum an, zusammen mit anderen Chemikalien. Dann unterschrieb er den Ausgabebeleg, sammelte alles ein und begab sich zurück in sein kleines Zimmer, wo er die Sachen auf dem Tisch ausbreitete.
In Chemie besaß er nicht soviel Erfahrung, wie eigentlich nötig gewesen wäre, aber er hatte immerhin Tumultys grundlegendes Werk gelesen, der zehn Jahre zuvor an der Universität zu Marshafen ein einfaches Verfahren einer Synthese von Kortison aus Cholesterol entdeckt hatte. Es hatte eine Vielzahl von Fragen über die Reaktion des Körpers auf Hormone geklärt. In diesem Fall aber zählte das Produkt und nicht die Theorie. Endlich konnte er befriedigt nicken, weil er sicher war, dieses Verfahren in kaum einer Stunde wiederholen zu können. Es war eine gekonnt einfache Synthese, die weniger Zeit beanspruchte, als er ursprünglich gedacht hatte.
„Was tun Sie dort, Dr. Jensen?“ hörte er die Stimme des Angestellten aus der Ausgabe hinter sich.
Boyd stoppte die Brennerzufuhr und begann, das hergestellte Pulver abzukühlen. „Ich habe gerade etwa fünfzig Gramm Kortison hergestellt“, antwortete er. „Wollen Sie etwas davon für Ihr Lager abhaben?“
Schmunzelnd wandte er sich um. Sein Triumph aber erstarb schlagartig, als er zwei finster dreinschauende Priester neben dem Angestellten entdeckte. In um die Roben geschnallten Gürteln steckten Pistolen. Die Waffen und die bösen Blicke verrieten bereits das, was einer der Männer zu sagen hatte: „Dr. Jensen, Sie sind verhaftet!“
7
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