Das Elixier der Unsterblichkeit
Reste der Nahrung an die Erde zurückgab, ein Mann, der Trauer fühlte, wenn er viel zu lange die Nähe der Liebe vermisst hatte. Doch konnte er nicht leugnen, dass er dies alles auf eine göttliche Weise erlebte. Er fühlte sich seiner selbst sicher, so vollkommen, wie seine Natur es zuließ. Er war eins mit Gott, weil die Unsterblichkeit sein Schicksal war. Doch er wusste auch, dass er diese Wahrheit allein tragen musste. Er würde niemals jemandem erzählen können, dass er die unfehlbare Medizin gegen alle Krankheiten gefunden hatte, ein Mittel, das ewiges Leben schenkt.
Über hundert Jahre lang zog Salman durchs Land, von Andalusien im Süden bis zu den Pyrenäen im Norden. Er besuchte kleine und große Städte, und überall empfing ihn ein fürchterlicher Gestank. Der unerträgliche Geruch rührte nicht daher, dass die Menschen ihre Nachttöpfe auf der Straße leerten, sodass die Städte von all der Unreinlichkeit dampften, die in den Rinnsteinen floss. Der Gestank, der ihm auf seiner Reise folgte, rührte daher, dass etwas faul war in Spanien.
SECHS BRÜDER
Mein Großonkel sprach wie gesagt mit Sasha und mir nie über sein Leben. Doch einmal erwähnte er, gleichsam im Vorbeigehen, dass er in den dreißiger Jahren in Wien gelebt und an einer Abhandlung über die Situation der Juden im Spanien des 15. Jahrhunderts gearbeitet habe. Ich kann mich nicht daran erinnern, wie wir auf dieses Thema gekommen waren. Doch er gab uns eine Zusammenfassung. Wir lauschten seinen Geschichten, die mich gänzlich verzauberten, immer voller Bewunderung, mit Ausnahme dieses einen Mals – deshalb kann ich mich an diese Gelegenheit so gut erinnern.
Er erzählte uns, die Kirchenmänner im Spanien der Inquisition seien von »limpieza de sangre«, der Reinheit des Blutes, besessen gewesen – ebenso wie Hitler, der von einem arischen Deutschland träumte. Jeder stand im Verdacht, unreines Blut zu haben, und man verlangte von den Menschen den Beweis, dass kein »mala sangre«, schlechtes Blut, in ihren Adern floss. Der Inquisitionsrat wurde überhäuft mit Stapeln von Informationen über Menschen, die kontrolliert, untersucht und von der Bevölkerung isoliert werden sollten.
Diese Menschenjagd, erklärte mein Großonkel, war äußerst bizarr, wenn man bedachte, dass die Spanier eine Mischung aus Basken, Kelten, Iberern, Phöniziern, Westgoten, Vandalen, Arabern und Juden waren. Keiner im Lande war reinrassig.
Besonders betroffen waren die Juden, unterstrich er. In der Hoffnung, der Brutalität der Inquisition zu entkommen, begannen einige Juden, mit ihren Plagegeistern zusammenzuarbeiten. Er nannte sie Kollaborateure und betonte, dass die Denunziation Familien spaltete. Außerdem gab es viele, die konvertierten und sich taufen ließen, um ihr eigenes und das Leben ihrer Kinder zu retten, um außerhalb der Judenviertel leben zu können, um nicht das demütigende rote Abzeichen auf der Brust tragen zu müssen oder um ihrer Arbeit nachgehen zu können.
Sasha und ich sahen uns verständnislos an, während wir nach einem verborgenen Sinn hinter den unbegreiflichen Worten »mala sangre«, »isolieren«, »Kollaborateure« und »konvertieren« suchten. Hätte mein Großonkel uns all dies auf Spanisch erzählt, hätten wir nicht weniger verstanden. Er bemerkte nicht, oder tat so, als würde er es nicht bemerken, dass wir ihm nicht folgen konnten und uns fragten, wovon er überhaupt sprach. Wir hätten viel lieber erfahren, was er in den dreißiger Jahren in Wien getan hatte, doch keiner von uns wagte es, ihn zu unterbrechen.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und Großmutter stürmte in die Küche, wo wir am Tisch saßen. Sie hielt abrupt inne und sah meinen Großonkel misstrauisch an, der erstarrte und verstummte.
»Franci, du fütterst die Jungen doch nicht etwa wieder mit Räubergeschichten?«, fragte sie, ausnahmsweise mit einem verschmitzten Funkeln in den Augen.
»O nein«, antwortete er. »Wir reden über Schach. Ich habe den Jungs gerade von dem phantastischen Titelkampf im Frühjahr 1921 zwischen José Raúl Capablanca und dem amtierenden Weltmeister Emanuel Lasker erzählt. Nach vier Niederlagen gab Lasker auf und schob es auf seine schlechte Gesundheit. Es war eine Weltsensation. Ich werde nie den Moment vergessen, als ich die Nachricht im Radio hörte. Es war mein letzter Tag im Internierungslager in der Emilia-Romagna. Am nächsten Morgen sollte ich nach Hause zu meinen Lieben fahren.«
»Franci, Franci, hüte deine
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