Das Elixier der Unsterblichkeit
des verehrten Kardinals Juan de Torquemada war der kleine Tomás ein Kind, das unter genauer Beobachtung stand. Als er sechs Jahre alt wurde, trennte man ihn von anderen Jungen und überließ ihn Dominikanermönchen, doch erst als Achtzehnjähriger legte er das Gewand der Schwarzbrüder an.
»Er hatte«, so erzählte unser Großonkel, »eine gute Redegabe und predigte schon in jungen Jahren den Mönchen, die sich willig um ihn scharten, als wären sie seine Jünger.«
»Seine Augen leuchten wie Sterne, und es herrscht ein Kraftfeld um ihn herum«, schrieb einer der für seine theologische Schulung zuständigen Priester. »Die Feinde des wahren Glaubens fürchten ihn, und sie schlafen schlecht.«
María Torquemada war unbändig stolz auf den immensen Glaubenseifer ihres Sohnes, der niemals Fleisch aß, zweimal die Woche fastete, in allem Wesentlichen Sankt Dominikus nachahmte und sich mit den gleichen Wendungen ausdrückte, die der Heilige gebraucht hatte. Im Alter von zweiunddreißig Jahren wurde er zum Prior des Klosters Santa Cruz i Segovia ernannt und zum Beichtvater Ferdinands und Isabellas auserkoren, was ihm großen Einfluss auf das Königshaus einbrachte. Doch seine liebende Mutter fürchtete sich vor dem Tag, an dem er entdecken würde, dass seine eigene Großmutter eine »conversa« war, eine getaufte Jüdin, was bedeutete, dass er keine mustergültige »limpieza de sangre« bis in die siebte Generation vorweisen konnte und dass das Blut in seinen Adern unrein war.
Doch Tomás de Torquemada, der die Stammtafeln aller Menschen überprüfen ließ, machte sich nie die Mühe, seine eigene Herkunft zu erforschen. Vielleicht war er zu sehr damit beschäftigt, Juden und deren Nachkommen zu jagen, als wären sie von Pest befallen oder aussätzig – zu sehr beschäftigt damit, sie gnadenlos zu verfolgen, zu inhaftieren, zu verhören, zu foltern und zu verbrennen, um danach auch noch ihren Ruf zu zerstören und ihr Andenken auszulöschen.
DAS VOLK WEBT LEGENDEN
Nach der entsetzlichen Nacht in Sevilla wurde Salman von dem Gefühl ergriffen, das Leben habe ihm unerwartet ein Geschenk gemacht, indem es ihm die Möglichkeit gab, frei zu sein, alles hinter sich zu lassen. Denn alle, sogar seine drei Söhne, glaubten, er befände sich unter den über viertausend unschuldigen Opfern, die ermordet, verstümmelt und bis zur Unkenntlichkeit verbrannt worden waren.
Salman war Freiheit nicht gewohnt. Das Erwachsenenleben hatte für ihn vor allem Pflicht und Arbeit beinhaltet. Zu Anfang war es sein Ziel gewesen, eine Familie zu gründen, da er so früh seine Eltern und seine vier Brüder hatte begraben müssen. Später hatte ihn eine so große Furcht ergriffen, seine Nächsten zu verlieren, dass er das große Geheimnis, in dessen Besitz das Geschlecht der de Espinosa sich befand und das zu bewachen seine Aufgabe war, fast vergaß. Doch nun, da seine Ehefrau, zwei Töchter und fünf Enkelkinder tot waren, befiel ihn eine fast ungehörige Lust, aufzubrechen und alles hinter sich zu lassen. Wie ein Schlag in den Magen traf ihn, als er in La Judería zwischen den Ruinen umherwanderte, der Gedanke, dass er, der das Elixier der Unsterblichkeit gekostet hatte, sein Leben der Hilfe für jene weihen würde, die in den engen Gassen der Judenviertel gefangen waren und davon träumten, in Freiheit zu leben.
Das war der Beginn.
Er zog hinaus, auf verschlungenen Pfaden von Süden nach Norden und von Norden nach Süden, wanderte zielstrebig, ohne sich von Frühlingsschauern, sommerlicher Hitze oder winterlichen Schneestürmen behindern zu lassen. Er begegnete Glaubensbrüdern in Ost und West und trat unermüdlich für sie ein, hundert Jahre lang. Er dämpfte das eintönige Klagelied des Volkes, indem er auf schwierige Fragen antwortete, nicht nur nach der Seele, sondern auch nach dem Körper. Er gab klugen Rat und löste alltägliche Probleme – immer ohne Lohn, ohne um einen Peso oder auch nur um eine Brotkruste zu bitten. Er kleidete sich einfach und sprach leise. Überall griff er furchtlos die schamlosen Manipulationen und das brutale Vorgehen der Inquisition an. Er verkündete nichts und versprach nichts, und am allerwenigsten vollbrachte er Wunderwerke. Er war einfach nur dort, wo er gebraucht wurde, und half den Menschen, die vielfältigen Prüfungen des Lebens zu ertragen, Unglück, Leid, Krankheit und Tod. Er war unter vielen verschiedenen Namen bekannt, jedoch nicht unter seinem eigenen. An den meisten Orten wurde er als der
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