Das Elixier der Unsterblichkeit
Messer. Sie schrien: »Mit Feuer und Blut machen wir den Juden den Garaus.« Der Lärm von der Straße, die erschreckenden Worte bewegten ihn tief. Er hatte schon früher erlebt, dass der Pöbel unter anfeuernden Schlachtrufen in der Dunkelheit angriff. Plötzlich erinnerte er sich an die Nacht in Córdoba, als maskierte Männer den alten Jacobo Tibbon misshandelt und sein Haus in Brand gesteckt hatten. Salman war fünfzehn Jahre alt gewesen und vom Haus des Nachbarn Luis Abudalfias aus, wo er sich versteckt hatte, Augenzeuge des Geschehens geworden. Dass er den Rabbiner nicht vor den Flammen hatte retten können, hatte ihn seit jener Nacht ständig gequält.
Instinktiv begriff er, was geschehen würde. Er fühlte sich schutzlos und sah deutlich vor sich, wie die dunklen Gestalten ihn ergreifen und zu Boden werfen würden, ihn bespucken und treten, ihm die Kleider vom Leib reißen und den halb totgeschlagenen Körper in Brand setzen würden.
Er beeilte sich, Ester zu wecken, die schwer und röchelnd atmete. Im selben Moment ertönte ein heftiges Klopfen an der Tür.
Was in dieser Nacht in Sevilla geschah, war so fürchterlich, so blutig und so erschreckend, dass ich die Erzählung meines Großonkels gar nicht hören wollte. Seine Stimme war bedrückt, schicksalsschwer. Es war zu spüren, dass es ihn einige Mühe und Anstrengung kostete, diese schrecklichen Details wiederzugeben. Was ich hörte, erfüllte mich mit Ekel, und es kam mir vor, als würde ich langsam in einem Abgrund versinken, umgeben vom Klagen der Männer, vom Weinen der Frauen und von den Schreien der Kinder. Mir wurde schlecht und ich musste mir die Ohren zuhalten. Ich begann zu weinen und zu zittern. Mein Großonkel sah mich erstaunt und verwirrt an. Sollte er die Erzählung vom ersten Judenprogrom in Sevilla fortsetzen? Einem Blutbad, dem in den folgenden Jahrhunderten viele andere folgten. Er beschloss, dort einen Punkt zu machen und nie mehr von dieser Episode in der Familiengeschichte zu sprechen.
Deshalb weiß ich nicht genau, was Salman und seine Nächsten in der Nacht zum 6. Juni 1391 erlebten, als die selbsternannten Wächter der reinen Lehre Männer erschlugen, Frauen und Kindern die Kehle durchschnitten, brandschatzten und plünderten. Sie ließen viertausend unschuldige Tote zurück.
Dagegen weiß ich, dass Salman und Ester am nächsten Vormittag ihre Töchter und deren Familien in den Ruinen des abgebrannten Viertels fanden. Die Leichen waren verstümmelt und verkohlt. Salman konnte die Tränen nicht zurückhalten. Ester schrie weder, noch weinte sie. Sie stand mit geradem Rücken und starrem Blick, überwältigt von Schmerz. Sie betrachtete die Leichen ihrer Kinder und Enkelkinder lange und konzentriert, bis die Trauer ihre Lebenskraft zerstörte und sie tot zu Boden sank.
DER UNSTERBLICHE WANDERER
Wieder hatte der Tod Salman seiner Nächsten beraubt. Seiner Frau. Seiner Töchter. Seiner fünf Enkel. Seiner zwei Schwiegersöhne. Seiner Freunde. Seiner Nachbarn.
Wieder hatte er die Herrschaft des Todes aus der Nähe gesehen. Was wollte er ihm sagen?
Er lauschte dem Tod. Er lauschte lange, bis er begriff, dass er schon seine irdischen, sterblichen Grenzen überwunden hatte und in das Unsagbare eingedrungen war, dass das, was er jetzt erlebte, der seltenste Augenblick der Gnade war, den meisten unbekannt, von vielen angestrebt, von niemandem erreicht – dass ihm als einzigem vergönnt war, einen solchen Augenblick festzuhalten und den Tod als sichtbare Gestalt zu erkennen, sein Gesicht zu erleben und somit auch davor bewahrt zu sein, in seinen Armen zu enden.
Salman betrachtete seinen Körper. Er hatte die sechzig überschritten, doch sein Gesicht war das eines jungen Mannes, und nur die Gewohnheit hatte verhindert, dass er selbst und seine Umgebung dies wahrgenommen hatten. Noch merkwürdiger war es, dass sein Körper nicht die geringsten Spuren davon aufwies, dass er geschlagen, getreten, mit dem Messer verwundet und verbrannt worden war. Da war keine einzige Verletzung, die von der Brutalität des Pöbels in dieser furchtbaren Nacht zeugte. Er erinnerte sich, dass ein großgewachsener Mann mit kräftigen Hammerschlägen seine Beine gebrochen hatte, ohne ihm einen Klagelaut entlocken zu können. Ihm wurde klar, dass er jegliche physische Qual ertragen konnte, denn er war im Besitz einer fast göttlichen Freiheit.
Er war der, der er immer gewesen war: ein Mann, der von den Früchten und Tieren der Erde genährt wurde und der die
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