Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabi Gleichmann
Vom Netzwerk:
Bento, nachdem er wochenlang danach gesucht hatte, die Schriften Uriel Spinozas. Sie waren sorgfältig hinter anderen Büchern versteckt.
    Er las heimlich in diesen Werken, mit größerer Achtung und größerem Respekt als beim Studium der Thora. Obwohl Uriel vollendet und brillant schrieb, verstand Bento zunächst nicht viel. Doch er gab nicht auf, er fühlte sich verpflichtet, weiterzulesen. Er war besessen von dem Gedanken, seinen Onkel getötet zu haben, ein Albtraum über Jahre hinweg. Angesichts dieser entsetzlichen Tat war es keine Mühe, sondern eher eine Pflicht für ihn, sich in die Schriften des Abtrünnigen zu vertiefen und herauszufinden, wer er gewesen war, was er gedacht und geschrieben hatte.
    Bento las immer öfter darin, Zeile für Zeile, ohne etwas zu überspringen. Hochkonzentriert versuchte er, die dem Ganzen zugrunde liegende Botschaft zu deuten. Aber Uriels Gedanken folgten einer anderen Logik als der, die die gewöhnlichen jüdischen religiösen Texte prägte. Dagegen wurde Bento schnell klar, mit welch geradliniger Aufrichtigkeit sein Onkel vorgegangen war. Er bedauerte nur, dass Uriel so wenig über sich selbst geschrieben hatte.
    Hier fanden sich verblüffende Feststellungen, die Bento den Atem stocken ließen.
    Auf einer Seite in
Sobre a Mortalidade de Alma do Homem
(Über die Sterblichkeit der menschlichen Seele) las er, dass die Seele drei Tage nach dem Tod, wenn sie den gebrechlichen Körper geschaut hat, den sie zuvor bewohnt hat und der sich jetzt im Zustand beginnender Verwesung befindet, diesen für immer verlässt und sich auflöst.
    An anderer Stelle, in
Propostas contra a Tradição
(Vorschlag gegen die Tradition), wurde in Frage gestellt, ob Gott auf dem Berg Sinai Moses und dem jüdischen Volk das Gesetz übergeben habe.
    Fast alles in der Substanz dieser Schriften, die kühnen Gedanken und die waghalsigen Argumentationen, stand im Gegensatz zu den Ansichten der Zeit und zu dem, was Bento zu Hause und in der Talmudschule Ets Haim gelernt hatte. Manchmal fühlte er sich abgestoßen, dann wieder war er empört und meinte, nichts könne Uriels Schlussfolgerungen und das Untergraben der Autorität der jüdischen Lehre entschuldigen. In jedem Fall war er verwirrt und unsicher.
    Nach Monaten intensiver Lektüre begann Bento sich zu langweilen. Inzwischen war er auch dessen überdrüssig geworden, was ihn am Anfang am meisten beeindruckt hatte – Uriels reine und unnachahmlich elegante Sprache. Dies lag vor allem daran, dass er kaum eine Ansicht des Abtrünnigen teilte. Dann eines Tages, nach all den Anstrengungen, die Ganzheit hinter den Myriaden von Zeilen zu verstehen, die Uriel in seiner Einsamkeit aufgezeichnet hatte, stieß der Jüngling auf einen Satz, der ihn sofort gefangennahm und tief beeindruckte: »Das Wichtigste ist nicht, recht zu haben, sondern zu wagen, selbst zu denken, uralte Dogmen in Frage zu stellen und zu seiner Überzeugung zu stehen.«
    Bento las den Satz mindestens hundert Mal und wiederholte die Worte laut: »… uralte Dogmen in Frage zu stellen und zu seiner Überzeugung zu stehen …«
    Er sah seine Berufung klar vor sich und beschloss, sein Leben der Suche nach einem eigenen Weg zu weihen, seine eigenen Gedanken zu formulieren und Wahrheiten zu vermitteln, auch wenn er noch zu jung war, um zu wissen, worüber er schreiben wollte.
DIE THORA MIT NEUEN AUGEN
    Bento las die Thora mit neuen Augen, ohne zu wissen, in wie hohem Maße ihn Uriels unsichtbare Hand leitete. Er las und machte Notizen. Er war wie besessen. Seine Augen glühten, und seine Aufzeichnungen wurden immer kritischer, immer skeptischer.
    Er erkannte, dass Uriel den Finger auf einen wunden Punkt in der heiligen Schrift gelegt hatte: In den Büchern Mose mangelte es an Belegen für eine Reihe zentraler Thesen.
    Bento suchte einen neuen Kurs. Vielleicht gab es überhaupt keine Wahrheit? Vielleicht existierte die Welt nur durch sechsunddreißig Geschichten?
    Im Rabbinerseminar war Bento wie ausgewechselt. Er war zerstreut, immer verschlossener, in Tagträumereien versunken. Man begann zu munkeln, er sei von einem bösen Geist, einem Dybbuk besessen. Man flüsterte, der tote Ketzer Uriel Spinoza habe sich in Bentos jungem Körper eingenistet.
    Als sein Lehrer ihn fragte, was ihn so quäle, antwortete er mit Gegenfragen: »Hat Gott wirklich keinen Körper?«
    »Ist die Seele unsterblich?«
    »Hat ein Säugling, der nach zwei Tagen stirbt, eine Seele gehabt?«
    »Lenkt die göttliche Vorsehung die

Weitere Kostenlose Bücher