Das Elixier der Unsterblichkeit
gottesfürchtigen jüdischen Familienvater; leider habe ich seinen Namen vergessen. Der Mann – in den Vierzigern, steif und nervös, mit schiefen Schultern, die Art von Mann, die vom Leben schwer geprüft worden ist und in den religiösen Schriften Trost suchte – spielte einen ganzen Nachmittag mit seinen fünf Kindern, verteilte Süßigkeiten und erzählte ihnen ein Märchen, als sie zu Bett gingen. Seine Frau war nicht im Haus, sie half einer jungen Verwandten, die gebären sollte. Als sie am nächsten Morgen nach Hause kam, fand sie ihre fünf Kinder mit durchschnittenen Kehlen. Ihr Mann, vollkommen blutbesudelt, hatte sich an seinem Gebetsschal erhängt, ohne einen Abschiedsbrief zu hinterlassen.
Bialomba. Uriel musste unwillkürlich an diesen seltenen Baum denken.
Einer portugiesischen Legende zufolge werden die nicht essbaren Früchte des Bialombabaums im Herbst tieftraurig und fallen zu Boden, wo sie schrumpelig werden und sich in Monarchfalter mit einem auf die Flügel gemalten brandgelben Halbmond verwandeln. Wenn Wind weht, kann man die Schmetterlinge vorsichtig aufheben und in die Luft werfen, dann können sie fliegen und leben. Sonst soll man sie am Boden lassen, bis sie verhungern. Dann geschieht nichts, und das Leben geht seinen gewöhnlichen Gang. Aber wenn man die Schmetterlinge unachtsam behandelt, auf sie tritt oder ihnen auf andere Weise Schaden zufügt, bringt es Unglück.
Uriel versuchte, andere Szenen und Ereignisse aus seinem Inneren auszugraben.
Doch das einzige, woran er denken konnte, war, wie er in seiner Jugend, unverwundbar und sorglos im Wald vor seiner Geburtsstadt Porto, in reinem Trotz die abgefallenen Früchte des Bialombabaums zertrat und unzählige Schmetterlinge tötete.
Die Rabbiner beschrieben die Weltordnung als etwas dem Menschen Unzugängliches, ein Mysterium, das zu durchschauen nur Gott vergönnt ist. Uriel hatte diese Gedanken in Frage gestellt und für eine andere Auffassung plädiert. Er glaubte, dass die Welt gemessen und gewogen werden könnte, dass es möglich wäre, ihre Geheimnisse zu beschreiben. Diese Überzeugung hatte ihn zum Abtrünnigen gemacht.
Jetzt kam ihm der Gedanke, dass die Welt geheimnisvoll und unergründlich war, von unsichtbaren Kräften gelenkt, die der Mensch nicht begreifen konnte. Gibt es eine Ordnung im Kosmos und einen Sinn in der Schöpfung, dann liegen sie jenseits jeden menschlichen Fassungsvermögens.
Aber wenn wir nichts begreifen und unser Leben nicht das Ergebnis eigener Entscheidungen, sondern etwas ist, was das Schicksal vor langer Zeit bestimmt hat – welche Bedeutung hat dann das Leben des einzelnen?
Sein ganzes Leben und sein Bewusstsein, alles war jetzt in dieser Frage gesammelt: Welche Bedeutung hat das Leben des einzelnen?
Plötzlich ereignete sich ein Erdrutsch in Uriels Inneren. Sein Glaube und seine Vernunft, das ganze Wertesystem, das für ihn über Recht und Unrecht bestimmte, alle Überlegungen, die er aus Protest gegen die jüdischen und christlichen Dogmen angestellt hatte – alles stürzte in sich zusammen. Er fand seine eigenen Gedanken sinnlos und verwarf sie.
Gottes Wege sind für den Menschen unbegreiflich, sagte er sich und ging in seine kleine Bibliothek. Er strich mit den Fingerspitzen über die Buchrücken. Die Bücher standen dort mit ihren Botschaften, kluge Wörter, die ihn nichts mehr angingen. Seine eigenen Arbeiten kamen ihm oberflächlich und nichtssagend vor. Er bereute, sie geschrieben zu haben.
Er setzte sich wieder an den Tisch. Vor sich hatte er das Dokument des jüdischen Rates, eine geladene Pistole, ein paar lose Blätter, Tinte in einem kleinen Tintenfass und eine Stahlfeder angeordnet. Er tauchte die Feder in die Tinte, ließ einige Tropfen fallen und schrieb: »Wie hätte mein Leben ausgesehen, wenn ich nicht die Früchte des Bialombabaums zertreten hätte?«
Dann setzte er die Mündung der Pistole an den Punkt an seiner Schläfe, wo Bentos Stein ihn getroffen hatte. Er nahm einen tiefen Atemzug, legte den Zeigefinger an den Abzug und drückte ab.
DER KOMET UND DER TOD
Am selben Abend, an dem Uriel sich das Leben nahm, zeigte sich ein ungewöhnlich großer Komet am Himmel. Es ging das Gerücht, der Schweif des Kometen würde die Erde berühren. Ein katholischer Priester in Nijmegen hatte, offenbar unter dem Einfluss von Alkohol, prophezeit, die Juden würden verschwinden und das sündige Amsterdam würde dem Erdboden gleichgemacht. Dies hatte der Erzengel Gabriel ihn wissen
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