Das Elixier der Unsterblichkeit
Fußboden zeigte Spuren von drei oder vier Generationen von Mäusen, die den Rücken des Talmud zernagt und im Bett ihre Nester gebaut hatten.
Benjamin war klar, dass sein Bruder selten Besuch bekam, und am allerwenigsten weiblichen. Er war drauf und dran, eine entsprechende Bemerkung zu machen, sah aber ein, dass Bento gekränkt wäre, und konnte sich noch rechtzeitig beherrschen.
Die Brüder hatten viele Gemeinsamkeiten in ihrem Wesen, doch was Ordnung betraf, waren sie extrem gegensätzlich. Dies vor allem hatte dazu geführt, dass Bento gegenüber dem ein Jahr Älteren stets einen gewissen Widerwillen empfunden hatte.
Benjamin war ein Pedant, der in seinem Leben Ordnung und Regelmäßigkeit brauchte. Er ging sogleich ans Werk. Während Bento seine Gedanken über die Grundlagen der cartesianischen Philosophie darlegte, stopfte Benjamin ein paar Mauselöcher zu, holte Wasser, wusch in einem Bottich die Bettwäsche und hängte sie im Hinterhof auf, scheuerte den Fußboden, wischte Staub und ordnete die Bücher, nicht in alphabetischer Reihenfolge oder nach Themengebieten, sondern der Größe nach. Als er mit dem Saubermachen fertig war, setzte er sich auf einen Stuhl, atmete tief durch, hörte auf das Läuten der Glocken im Kirchturm, die achtmal schlugen, und war bereit, zusammen mit Bento ein neues Leben zu beginnen.
GOTT UND SCHWACHE LUNGEN
Tagsüber schliffen die Brüder optische Gläser und Linsen für Ferngläser in einer nahe gelegenen Werkstatt. Die Arbeit füllte ihre Lungen mit Glasstaub und ihre Taschen mit einem bescheidenen, aber sicheren Einkommen. Nachts, wenn niemand sie hören konnte, führten sie kühne und extrem unkonventionelle Diskussionen über die Freiheit des Menschen und über seine Möglichkeit, in einem von Gesetzmäßigkeit diktierten Dasein gerecht zu leben.
Sie waren jung, entschlossen, frei, gemeinsam würden sie Großes vollbringen. Doch zuerst wollten sie – es war Benjamins Vorschlag – ihr eigenes Bewusstsein vertiefen und sich geistig weiterentwickeln, denn nur beseelte Wesen verstehen es, ihre argumentierende Vernunft auf die richtige Art und Weise zu nutzen. Dann würden sie das menschliche Leben erforschen und seine Geheimnisse erkunden. Beide ließen sich von Fragen leiten, die das Herz betrafen, dagegen verzichteten sie bewusst darauf, an andere edle Körperteile zu denken, denn sie wollten nicht von verwerflichen körperlichen Begierden versucht werden.
Eines Nachts sahen sie alles klar vor sich. Die Erkenntnis dieser tiefsten Wahrheit brachte sie fast dazu, die Besinnung zu verlieren. Bento versuchte, ihre Gedanken zu Papier zu bringen, doch es gelang ihm nicht. Seine Hand zitterte vor Erregung. Also musste Benjamin, dem es immer leichter fiel, sich schriftlich auszudrücken, die Feder führen.
»Niemand kann Gott sehen, fühlen oder definieren«, notierte er. »Gott existiert in allem, doch er bleibt stumm und unerreichbar. In seiner Schöpfung hat er Spuren hinterlassen, die wir studieren und denen wir folgen können.«
Die Brüder waren zutiefst dankbar für die Gnade, die ihnen widerfahren war. Benjamin brach manchmal in Tränen aus, nicht aus Traurigkeit, sondern aus einer inneren Freude. Er fühlte sich als der glücklichste Mensch auf Erden.
Conversas
, die erste Arbeit der Brüder, ein dünnes Pamphlet, in dem sie ihre Beredsamkeit und ihre Argumentationsmethode entwickeln, erschien nur in einer Handvoll von Exemplaren. Der Buchdrucker Pieter van Driest fürchtete die kirchlichen Behörden, die ohne Vorwarnung Spione, »visitatores librorum«, auszusenden pflegten, um neu erschienene Bücher zu kontrollieren. Die Zensur war streng, auch wenn es einen gewissen Spielraum für gegensätzliche Meinungen gab, solange diese in Abgeschiedenheit zum Ausdruck gebracht wurden und die Auflagen der Schriften klein waren. Aber nur wenige Wochen zuvor waren in Leiden zwei Buchdruckereien in Brand gesteckt worden. Man musste auf der Hut sein. Also erhielt das Pamphlet den lateinischen Untertitel CAUTE , sei vorsichtig.
Conversas
enthielt die Diskussionen der Brüder, aber auf dem Umschlag stand nur ein Autorenname: Bento Spinoza.
Benjamin war ein Mann von edler Gesinnung, äußere Auszeichnungen waren ihm gleichgültig. Er hatte nur bescheidene Forderungen ans Leben. In erster Linie wollte er dem Bruder nahe sein, ihn fördern und beschützen. Anderen gegenüber war er mild und wohlwollend, streng nur gegen sich selbst. Jede Nacht saß er an seinem Pult. Eine in
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