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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabi Gleichmann
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religiösen Minoritäten eine Freistatt boten. In Amsterdam war er der Abtrünnige, der die Rabbiner kritisierte und den jüdischen Glauben in Frage stellte. Er war der wurzellose Marrane, der nirgendwo zu Hause war.
    In der Religionsschule hatte der strenge Rabbiner Orobio den Kindern erklärt, dass unter allen Marranen Uriel Spinoza derjenige war, der sich am stärksten vom Katholizismus hatte beeinflussen lassen. Orobio behauptete, Uriel sei vom katholischen Glauben besessen, seine abweichende Lebensart widerspreche jüdischen Sitten und Gebräuchen, sein Ziel sei es, die Autorität der Rabbiner zu untergraben. Er sei gefährlich und stelle eine ernste Bedrohung der Juden in Amsterdam dar.
    »Niemand«, ließ Orobio sich in drohendem Ton vernehmen, »niemand darf mit diesem Mann reden. Er ist der Sprecher der Verwirrten. Seine Irrlehren können euch fürs ganze Leben Schaden zufügen, Kinder.«
    Die Jungen beobachteten Uriel aus der Entfernung. Er war groß, mager, knöchern, hatte eine Nase, die krumm war wie ein Schnabel, und dunkle Augen, die auf die Welt blickten, als wüssten sie alles. Er ging ein wenig vorgebeugt und zog die Füße nach, nicht wegen seines Alters, sondern weil er in sich selbst versunken war.
    Die Jungen liefen ihm nach und riefen Schimpfworte. Uriel blieb stehen, als er die Kinderstimmen hörte, die ihn mit Wörtern beleidigten, die er nicht kannte. Er drehte sich um. Da warf einer der Jungen einen großen Stein, der ihn an der Schläfe traf. Er fühlte, wie das Blut über seine linke Wange lief. Er holte tief Luft und seufzte laut, als er in dem Jungen, der den Stein geworfen hatte, seinen Neffen Bento erkannte.
EIN EINHELLIGER BESCHLUSS
    Zu Hause setzte Uriel sich an den Tisch. In dem spartanisch eingerichteten Raum herrschte Stille. Er holte das Dokument des jüdischen Rates hervor und las es langsam mehrere Male.
    Der Beschluss war einhellig. Wegen seiner Ansichten, die grundlegende jüdische Glaubensvorstellungen in Frage stellten, wurde Uriel Spinoza aus der jüdischen Gemeinde Amsterdams ausgeschlossen. Der Ausschluss trat mit sofortiger Wirkung in Kraft und galt lebenslänglich. Das Dokument war unterzeichnet von Michael Spinoza, seinem Halbbruder.
    Uriels Hände begannen zu zittern. Jahrelang hatte er isoliert gelebt, in großer Armut, ohne jemanden in seiner Nähe, ohne eine Frau in seinem Bett. Aber noch nie hatte er sich so hoffnungslos ausgeschlossen gefühlt. Es erschreckte ihn, dass er von eben jenen Menschen verstoßen worden war, die er mit seinen Gedanken erreichen wollte. Seinen jüdischen Freunden Einblick in die Wahrheit zu geben war die Triebkraft hinter seinem besessenen Suchen, die seine Tage erleuchtete und ihn ermutigte, sich dem zeitraubenden Prozess des Schreibens hinzugeben und zu versuchen, die Ordnung im Dasein zu finden.
    Uriel dachte nie an seine Kindheit oder Jugend. In der Zeit seines Aufwachsens war er gezwungen gewesen, seinen jüdischen Ursprung zu verschweigen und sich den Anschein zu geben, Katholik zu sein. Deshalb hatte er diesen Teil seines Lebens aus seinem Bewusstsein gelöscht. Als er jetzt versuchte, an die Zeit in Porto zurückzudenken, musste er sich anstrengen, um sich auch nur Fragmente in Erinnerung zu rufen.
    Vielleicht lag es an seiner Vergangenheit, dass es ihm missfiel, wenn Juden im Exil so großen Gefallen daran fanden, von ihren Erinnerungen an Sepharad, das jüdische Spanien, zu erzählen. Als wäre das Leben nur dort lebenswert.
SELBSTMORD IM EXIL
    Mein Großonkel erzählte uns bei mehreren Gelegenheiten, dass die spanische Inquisition überall auf der Iberischen Halbinsel Furcht, Schrecken und Tod verbreitete. Er erklärte uns auch, dass die Juden umso standhafter am Glauben ihrer Väter festhielten, je grausamer sie verfolgt wurden.
    Er machte kein Geheimnis daraus, dass viele im niederländischen Exil zusammenbrachen, obwohl man dort die Freiheit hatte, in Übereinstimmung mit seinen Traditionen zu leben. Aber sie wurden von wiederkehrenden Bildern und Erinnerungen geplagt, die vom Magnetfeld des Traums angezogen wurden. Und manchen gelang es nicht, mit dem Verlust der Heimat zu leben.
    »Die Selbstmorde kamen mit dem Exil. Sie wurden still und unbemerkt begangen, und man sprach nicht darüber«, erklärte mein Großonkel.
    Aber was wussten wir von Selbstmord, zwei zwölfjährige Jungen. Wir begriffen nichts, so sehr wir uns auch anstrengten.
    Michael Spinoza hatte einen Nachbarn, erzählte mein Großonkel, einen

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