Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabi Gleichmann
Vom Netzwerk:
Sobald er sein Haus verließ, befiel ihn die Angst. Als eine Vorsichtsmaßnahme ließ er seinen Bart und den Schnurrbart wachsen und verkleidete sich, um von dem wartenden Mörder auf der Straße nicht erkannt zu werden.
    Um sein bedrohtes Leben zu retten, begann Benjamin – dieses friedlichste aller Wesen – davon zu phantasieren, den dunkel gekleideten Meuchelmörder zu töten. Er malte sich aus, wie er akribisch und rachelüstern den tückischen Italiener umbrachte. Einmal benutzte er eine Axt, ein andermal ein Messer. Immer aber waren seine Hiebe tödlich. Mit der Zeit wurden Benjamins Phantasien und Tagträume immer grausiger. Er sah sich selbst, wie er dem Mörder den Kopf abtrennte und die Eingeweide herausriss. Eines Nachts sah er, wie er die dunkle Gestalt vom Kirchturm hinabstieß, und hörte das Geräusch des auf den Sandsteinplatten aufschlagenden Schädels. In einer Gewitternacht ließ er einen Blitz auf den Mörder herabfahren und Flammen seinen Körper verschlingen.
    Benjamin fand keinen Frieden. Der Italiener musste getötet werden, das Schicksal der Welt hing davon ab. Bald reichte es nicht mehr aus, den Meuchelmörder zu töten. Der dunkel gekleidete Italiener musste zu nichts werden. Auch die Erinnerung an ihn, das Wissen, dass er auf dieser Erde existiert hatte, musste ausgelöscht werden.
NEUNUNDZWANZIG JAHRE EINSAMKEIT
    Benjamins Arbeitsraum hatte zwei Fenster, die aus je zwanzig bleigefassten kleinen Scheiben bestanden und zum Innenhof hinausgingen. In dem halbdunklen kleinen Raum befanden sich ein Bett, ein Stuhl, ein wackliges Pult und ein Bücherregal.
    Neunundzwanzig Jahre irrte Benjamin hier umher. Er verließ dieses Zimmer nie mehr, auch nicht zu Bentos oder Mafaldas Begräbnis. Der dunkel gekleidete Mörder vor der Tür machte ihm Angst.
    Nach Mafaldas Tod war Benjamin allein im Haus, in dem gespenstisches Schweigen herrschte. Nur ein alter Diener erschien jeden Tag gegen zwölf Uhr, schob ihm Nahrung durch eine Klappe in der Tür und leerte sein Nachtgeschirr. Durch die Klappe drang ein zäher und modriger Geruch aus der Kammer nach draußen.
    In all diesen Jahren öffnete Benjamin nur einer einzigen lebenden Person die Tür. Es war im Herbst 1692. Der Besucher wurde von dem alten Diener ins Haus gelassen und flüsterte kaum hörbar seinen Namen durch die Klappe. Die von innen verriegelte Tür wurde aufgerissen. Benjamin hatte lange auf diesen Besuch gewartet.
    Benjamin begann sogleich zu reden und erzählte dem Besucher, er habe seit neunzehn Jahren mit niemandem gesprochen. Die Nebel des Wahnsinns hätten ihn umschlossen und er sei unfähig gewesen zu verstehen, was ihm geschah. Er sei ziellos in diesem kleinen Raum herumgeirrt. Die Tage seien zu Jahren geworden, ohne dass er es gemerkt habe.
    Aber im zwölften Jahr sei etwas Eigentümliches geschehen, das ihm eine Gänsehaut verursacht habe. Mitten am Tage wurde es vollkommen dunkel, und Balthasar von Uhrs offenbarte sich im Raum. Der Großmeister ging siebenmal um ihn herum und musterte ihn. Dann blieb er stehen, und sie betrachteten einander schweigend. Benjamin war von Uhrs vorher nie begegnet. Er reagierte darauf, dass ein schrecklicher Gestank aus dem Mund des Großmeisters drang, als dieser erklärte, ihr Verhältnis reiche viele Leben zurück und beruhe auf einem konflikterfüllten Geschehen zur Zeit Jesu in Galiläa. Er fügte noch hinzu, er habe nie etwas von dem bereut, was er gegen Benjamin getan habe, und sie würden sich in einigen hundert Jahren wiedertreffen. Dann verschwand von Uhrs, und der Italiener, der vor der Tür gewartet hatte, ging mit ihm.
    In dieser Nacht wurde der Himmel klar, und der Mond erleuchtete das Zimmer. Als die Dämonen verschwunden waren, hob sich auch der Nebel in Benjamins Kopf. In dieser Nacht verstand er, dass eines Tages ein Mann kommen würde, um ihm den rechten Weg zu zeigen.
    »Sieben Jahre habe ich auf diesen Mann gewartet«, sagte Benjamin, »immer habe ich versucht, an ihn zu denken als an einen Freund, einen Vertrauten, der Trost und Ruhe schenkt und mir hilft, den Sinn meines Lebens zu verstehen, zu verstehen, was das Ziel all der Entscheidungen war, die ich getroffen habe, oft aus Angst, manchmal aus Eitelkeit, selten aus Klugheit. Ich bin nicht einen Abend eingeschlafen, ohne mir ihn als jemanden vorzustellen, der auf mich gewartet hat, als einen Angehörigen, der am Bett eines Kranken gewacht und darauf gewartet hat, dass ich gesund würde und dessen würdig, ihm zu begegnen.

Weitere Kostenlose Bücher