Das Elixier der Unsterblichkeit
Kleider im Chinesischen Meer gewaschen habe und der Liebhaber der jungen Frau eines gealterten russischen Gouverneurs in Sibirien gewesen sei; dass er alles Unglück, alles Leid, alle Krankheiten und Ungerechtigkeiten des Lebens, Erdbeben, Überschwemmungen, Hungersnöte, Pest und Cholera erfahren habe.
Salman erzählte, wie er aus der Distanz seinen eigenen Nachkommen aus Spanien nach Portugal und von dort weiter nach Holland gefolgt war; dass er, der Tage und Jahre überdrüssig, darauf gewartet habe, in der Familie Spinoza eine Person zu finden, die ihn verstehen und das schwere Erbe weiterführen könnte, das Moses der Familie einst überantwortet hatte.
»Ich biete dir kein ewiges Leben oder Erlösung an«, sagte Salman. »Ich biete dir Wissen an, das du bearbeiten und zusammenstellen, verwalten und weitergeben sollst. Ich habe an meinem Wissen viel Freude gehabt, auch wenn es mir nicht gelungen ist, die Welt zu verändern, die Dummheit und das Böse zu besiegen, den Menschen Würde und Gerechtigkeit zu geben, auch wenn ich nicht fähig war, Heldentaten zu begehen und einem Mitmenschen das Leben zu retten. Doch ich habe keinen Anlass zur Verzweiflung, denn ich weiß, dass du und diejenigen, die nach mir kommen, erfolgreicher sein werden. Nimm dies entgegen, Benjamin Spinoza, sodass ich in Frieden sterben kann.«
Aus seinem Beutel zog er die Schriften seines Vaters, das siebte Buch Mose, das er selbst verfasst hatte, und das Rezept für das Elixier der Unsterblichkeit, wie es von seinem Urgroßvater Israel aufgezeichnet worden war, und überreichte alles Benjamin.
»Es steht außer jedem Zweifel, dass dies Gottes heller Tag ist und kein Traum«, erwiderte Benjamin. »Ich nehme deine Gabe an, und lasse dieses Licht des Wissens in mich eindringen und jeden Teil meines Körpers erleuchten. Das warme und wohltuende Licht deiner Gabe hat mein Herz bereits schneller schlagen und mein Blut schneller fließen lassen.«
»Mein Sohn«, sagte Salman. »Eine Stunde bevor ich zu dir gekommen bin, habe ich sieben Tropfen des Elixiers der Unsterblichkeit getrunken, die ich sorgfältig präpariert hatte. Die zweite Kur hebt die erste auf. Ich bin nicht sicher, was geschehen wird, aber meinen Berechnungen zufolge wird sich dieser Körper, in dem ich mehr als dreihundertfünfzig Jahre zu Hause war, binnen zweiundsiebzig Stunden auflösen. Ich spüre, wie die Haut über dem Brustkorb so dünn geworden ist, dass man hindurchsehen kann. Jetzt muss ich dich verlassen. Wir sehen uns in der Ewigkeit wieder.«
Benjamins Augen füllten sich mit Tränen. Sie umarmten sich. Dann verließ Salman de Espinosa den kleinen Raum und brach zu seiner letzten Wanderung auf.
BENJAMINS LETZTE TAGE
Die letzten zehn Jahre seines Lebens widmete Benjamin der Niederschrift des
Elixiers der Unsterblichkeit
. Obwohl er sich dessen bewusst war, dass das Buch nur von wenigen Menschen gelesen werden würde, sparte er keine Mühe, weder im Gedanklichen noch im Stilistischen, um ein Meisterwerk zu schaffen.
Er widmete die Arbeit seinen vier Söhnen, auch wenn nur Aron, der älteste, es lesen durfte. Er schrieb: »Dies ist euer Hintergrund. Die Zukunft liegt bei euch.«
Wie starb Benjamin Spinoza?
Immanuel Kant macht geltend – in seinem Werk
Träume eines Geistersehers
–, dass er sich an einem Apfelbaum erhängte. Dagegen vertritt Bertrand Russell die Auffassung, er sei an den Folgen eines Oberschenkelhalsbruchs gestorben, und Isaiah Berlin schreibt in einem Brief an einen israelischen Kollegen, er sei in der Nordsee ertrunken. Marx und Engels behaupten, er sei im Gefängnis gestorben. Das Gleiche meint Lenin, der darüber hinaus erklärt, er sei von der Inquisition zu Tode gefoltert worden.
Über die Ursache von Benjamins Tod streiten die Gelehrten weiter.
ZWEI GEMÄLDE
Es hat zwei Ölgemälde gegeben, auf denen Benjamins Gesichtszüge für die Nachwelt abgebildet waren. Das eine Gemälde heißt
Der Philosoph B. Spinoza
und ist von dem Maler Michael Lukas Leopold Willman signiert, der ein großer Bewunderer Michelangelos war. Es wurde von der Universität in Freiburg bestellt und Anfang der 1670er Jahre geliefert; das genaue Datum ist unbekannt. Das Bild hing im linken Flügel der philosophischen Fakultät.
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