Das Elixier der Unsterblichkeit
stapeln, mehr lieben als Geschichten über Heilige, denn wir erkennen uns selbst darin. Weil wir alle unser Leben auf kleinen oder großen Lügen aufgebaut haben.«
Avraham, Hectors ältester Sohn, hatte eine ausgeprägte Begabung für die Lüge. Sie war seine zweite Natur. In seinen Lügen und Halbwahrheiten mischte er Hohes mit Niedrigem, Mögliches mit Unmöglichem. Er ließ sich von Hemmungen nicht anfechten und log genauso frech über Kleinigkeiten wie über große Ereignisse.
Die Lust zu stehlen ließ ihn auch nie in Ruhe. Er stahl alles, wonach ihm der Sinn stand: Geld, Schmuck, Nahrungsmittel, Gegenstände. Und er stahl von allen: seinen Nächsten, Freunden, Bekannten, Kindern und Alten. Die einzige Sünde, deren er sich nie schuldig machte, war der Gebrauch physischer Gewalt.
Eines Tages ging Avraham zu weit. Er stahl Voltaire sechsundfünfzig Louisdor und eine Schweizer Taschenuhr. Der Philosoph stellte ihn zur Rede. Avraham erklärte sich für unschuldig, behauptete, sich stets bemüht zu haben, ein gesetzeskonformes Leben zu führen, also ein ehrlicher Mensch zu sein, und beschuldigte seine Schwester Shoshana des Diebstahls. Daraufhin nahmen zwei Diener eine Leibesvisitation bei ihm vor und brachten sowohl die verschwundenen Münzen als auch die Taschenuhr zum Vorschein. Die Schuldfrage war damit geklärt. Er weigerte sich indessen, seinen Diebstahl zuzugeben. Ohne die geringste Scham bezichtigte er die Diener, das Geld in seine Tasche gesteckt zu haben. Voltaire fand den Vorfall beklemmend.
Nach dem Tod des Vaters hatte er den Jungen auf ein Internat geschickt, das für seine strenge Disziplin und seine verschlossenen Tore bekannt war. Doch Avraham türmte aus der Schule und lebte mit einer Räuberbande in den Wäldern bei Saint-Etienne. Voltaire musste den Jungen von Gendarmen abholen lassen. Weinend und erbitterten Widerstand leistend, wurde er nach Ferney gebracht. Der Philosoph hoffte, sein großzügiges Wohlwollen und die Geborgenheit des Schlosses würden eine positive Wirkung auf die Entwicklung des Jungen haben.
Sieben Jahre lang hatte Voltaire versucht, Avraham zu erziehen, seinen Kopf mit Wissen und Einsichten zu füllen, ihm Rat und Aufmunterung zuteilwerden zu lassen und ihn zu einem von Weisheit und Schönheit erfüllten Leben zu führen. Doch so sehr er auch versuchte, Avraham vor dem zu bewahren, was das unausweichliche Schicksal des jungen Mannes zu sein schien, er hatte keinen Erfolg.
Voltaire konnte sich nicht länger etwas vormachen: Avraham war unverbesserlich. Er war ein Mann ohne Zukunft. Früher oder später würde er im Zuchthaus landen, fürchtete der Philosoph. Einen kurzen Augenblick überlegte Voltaire, den Lümmel in die Bastille zu schicken. Aber er dachte an die arme Madame Spinoza und stellte sich vor, dass die bisherigen Gaunereien nur ein Vorgeschmack auf die Prüfungen waren, die sie, was diesen Sohn betraf, noch erwarteten.
Avraham musste das Gut Ferney verlassen und reiste zur Mutter nach Paris. Sie war nicht glücklich, ihn zu sehen. Er behauptete, das Schloss aus eigenen Stücken verlassen zu haben, denn er könne es nicht ertragen, dass Voltaire ihn wie den niedrigsten unter seinen Dienern behandle, ihn in einem dunklen Keller schlafen und sich von Resten ernähren ließ, die er in der Speisekammer finden konnte. Die Mutter glaubte nicht, dass Voltaire so grausam gewesen war, doch sie war zu schwach, um ihren Sohn zur Rede zu stellen.
Schon einige Tage nach seiner Rückkehr begann Avraham, seine Mutter mit Forderungen zu konfrontieren, ihm seinen Anteil am väterlichen Erbe auszuzahlen. Er wolle sich eine eigene Wohnung kaufen, da die Anwesenheit der Mutter ihn irritiere. Um die Mutter wie auch Voltaire zu beruhigen, erklärte er, an der Sorbonne studieren und in die Fußstapfen des Vaters treten zu wollen. Die Augen seiner Mutter füllten sich mit Freudentränen. Aber Voltaire hatte kein Vertrauen und glaubte nicht, dass Avraham eine Ausbildung und einen ehrlichen Beruf anstrebte.
Avraham schrieb sich an der juristischen Fakultät ein, obwohl er nicht das geringste Interesse an Gesetzesparagraphen hatte. Er besuchte keine Vorlesungen, sondern nahm eine Anstellung bei einem Notar an, der die Geschäfte von Herzögen und Herzoginnen führte. Doch schon nach wenigen Tagen erkannte sein Arbeitgeber, dass er untauglich war. Als der Notar seinen Lebenslauf und seine früheren Erfahrungen in Frage stellte, verwickelte Avraham sich in ein Gespinst von
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