Das Elixier der Unsterblichkeit
Widersprüchen, aus dem er sich nicht mehr befreien konnte. Schließlich musste er zugeben, all seine Meriten erfunden zu haben. Intuitiv hatte Avraham erkannt, dass die beste Art und Weise, Menschen, die man verärgert hat, zu erweichen, darin bestand, an ihr Mitgefühl und Mitleid zu appellieren. Er erklärte, nur geschwindelt zu haben, weil er die Arbeit bei dem Notar dringend benötige, denn er brauche das Geld, um seine kranken Eltern und sieben jüngere Geschwister zu versorgen, unter denen zwei blind und taub geborene Mädchen seien. Dann versicherte er, nie wieder die Unwahrheit zu sagen. Der Notar war ein gutmütiger Mensch und hatte Mitleid mit der armen Familie, als er von ihrer schweren Not erfuhr. Avraham durfte bleiben. Aber es vergingen nicht viele Wochen, bis ihm Untreue und Unterschlagung vorgeworfen wurden. Der Notar drohte damit, die Polizei zu rufen, doch als er hörte, dass Avraham Voltaires Schützling war, ließ er es dabei bewenden, ihn vor die Tür zu setzen.
Eines Tages begegnete Avraham einem Priester, der seinen Vater gekannt hatte. Um die Sympathie des katholischen Gottesmannes zu gewinnen, erzählte er, der Notar, bei dem er gearbeitet habe, sei Päderast. Der allgemein respektierte Herr, erklärte er, hege eine Vorliebe für junge Männer und habe sich ihm unsittlich genähert. Er habe die Annäherungsversuche jedoch entschieden von sich gewiesen.
Der Priester hatte Mitleid mit Avraham, der das Pech gehabt hatte, am falschen Platz zu landen, und statt bei seiner Mutter und seinem Vormund Unterstützung zu finden, von diesen noch getadelt worden war. Der Priester wollte Avrahams Notsituation nutzen, um ihn zu Gott zurückzuführen. Er überredete ihn, das Kloster Abbaye de Royaumont bei Paris aufzusuchen und dort einige Tage zu bleiben. Es würde ihm helfen, seine Gedanken von den unschönen Erlebnissen der letzten Zeit fortzulenken und einen festen Punkt außerhalb seiner selbst zu finden. Der Priester berichtete, er habe einst Gottes Stimme gehört, als er in dem Kloster sechs Monate in Abgeschiedenheit verbracht habe. Avraham unterdrückte seine Wut, als er dies hörte, lächelte jedoch und versprach, sich Andachtsübungen zu widmen.
Obwohl die Ansichten des Priesters über das ewige Leben und das Erdendasein kaum mit denen Avrahams übereinstimmten, begab er sich zu dem Kloster. Es blieb ihm nicht viel anderes übrig.
Schon am zweiten Vormittag beichtete er beim Abt. Er vermied es, die dunklen Punkte in seiner Vergangenheit zu erwähnen, und behauptete stattdessen, er leide als Jude große Qualen wegen Jesu Tod und sehne sich danach, erlöst zu werden. Der Abt erteilte ihm die Absolution, ohne ihm eine besondere Buße aufzuerlegen. Er riet ihm zum Glaubenswechsel, damit er den Heiligen Geist und die Liebe Gottes empfangen könne.
Es war nicht schwer, Avraham zu überreden. Als das zum Vespergebet rufende Glockenläuten erklang, hatte er sich schon entschieden: Er würde zum Katholizismus übertreten. Nicht, weil er sich nach der Vereinigung seiner Seele mit dem Göttlichen sehnte oder weil er das Himmelreich schauen wollte, sondern weil ein Bekannter ihm erklärt hatte, der katholische Glaube sei die Voraussetzung dafür, dass ein Jude Zugang zur Welt der feinen Salons in Paris bekäme. Und wem kann es schaden, argumentierte er, ein paar lateinische Formeln aufzusagen?
Die Mutter weinte, als Avraham erzählte, er habe sich taufen lassen. Sie war noch blasser als sonst, und einen Augenblick fürchtete er, ihr könnte das Herz brechen. Aber sie klagte nicht.
In einem Brief an Voltaire vom gleichen Nachmittag erleichterte sie jedoch ihr Herz: »Wie konnte er mir das antun?«, schrieb sie. »Wo er ›de buena famiya‹ ist. Es wird einen schweren Schatten über den Rest meines Lebens werfen.«
BARON BEGEGNET GRÄFIN
Als Avraham sein Vatererbe ausgezahlt worden war, mietete er eine elegante Wohnung im Quartier Marais und führte ein sorgloses Leben. Jeden Abend ging er aus und vergnügte sich bis zum Tagesanbruch mit seinen neuen Trinkkumpanen, die sich rühmten, alle Manieren der feinen Welt zu beherrschen. Hauptsächlich gaben sie jedoch Grobheiten von sich und verkündeten herabsetzende Ansichten über Juden – ohne dass Avraham reagierte.
Er wurde häufig in Begleitung von Frauen gesehen, denen er den Hof machte, und fand ständig neue Objekte für seine Begierde, willige und schöne. Er wurde schnell populär im nächtlichen Paris, zumal er vortäuschte, ein Baron zu sein:
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