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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabi Gleichmann
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von besonderer Art, was mit ihren sephardischen Traditionen zusammenhing. In den beinahe vier Jahrhunderten, die seit ihrer Flucht vergangen waren, hatte sich das Spanisch, das sie untereinander sprachen, nur wenig verändert. Mit naiver Überlegenheit sah die Familie auf Juden mit einem anderen Hintergrund herab. Ein von ihnen häufig benutztes, mit Verachtung geladenes Wort war »todesco«, was »deutscher und askenasischer Jude« bedeutete. Für eine Arditti war es undenkbar, einen »todesco« zu heiraten. Sophie war kaum fünf Jahre alt, als ihr Vater sie schon vor einer solchen zukünftigen Mesalliance warnte.
    Unter den Sepharden in Marseille gab es die sogenannten guten Familien, womit man meinte, dass sie schon lange reich waren. Das Beste, was man in diesen Kreisen von einer Person sagen konnte, war, dass sie »de buena famiya« sei. Die Ardittis hatten dieser Geldkaste angehört, doch durch einen ausschweifenden Lebensstil und ein paar fehlgeschlagene Spekulationen war es Pierre gelungen, die Familie nahezu zu ruinieren. Er wagte nicht, jemandem davon zu erzählen – schon gar nicht seiner Ehefrau, die ein richtiger Drachen war –, und versuchte den Schein zu wahren, indem er heimlich das Familiensilber verscherbelte. Von dem Geld lud er Gleichgesinnte zu üppigen Sabbatdiners ein. Der arglose Mann lebte in ständiger Angst vor den Folgen einer Deklassierung in dieser intoleranten Welt feiner Familien.
    Madame Spinoza war ihr Leben lang von dünkelhaftem Familienstolz erfüllt. Sie versäumte es nie, ihre Kinder daran zu erinnern, dass sie von guter Familie seien und dass es nichts Besseres gebe. Hector nahm dieses Prahlen meist mit Gleichmut hin und machte sogar Scherze darüber, aber manchmal platzte ihm der Kragen und er sagte: »Eine Mitgift hast du nicht mit in die Ehe gebracht, aber die feine Dame spielen und wählerisch sein, das kannst du.«
    Es erboste Hector auch, dass sie sich so wenig für ihre Kinder interessierte. Er schalt oft mit ihr und sagte es manchmal direkt heraus, besonders wenn er sich darüber ärgerte, dass er noch immer nicht die Hand auf Maimonides’ Talmud hatte legen können: »Wenn ich gewusst hätte, dass dir jede Spur von Mütterlichkeit abgeht, hätte ich dich nie geheiratet.« Sie schaute ihn dann maßlos erstaunt an, aber seine Kritik machte keinen Eindruck auf sie.
    Chronische Migräne beherrschte Madame Spinozas Tage. Sie war voller Trübsinn, was auch daran lag, dass sie in ihrem geliebten Judenghetto in Marseille ein verwöhntes Mädchen der Oberklasse gewesen war, während sie sich nach der Heirat und dem Umzug in die Hauptstadt in eine vernachlässigte Hausfrau verwandelt hatte. Sie betrachtete die Pariser als Barbaren und weigerte sich, ordentlich Französisch zu lernen. Sie hatte keine Freunde, denn niemand war fein genug für sie, und sie ging monatelang nicht aus dem Haus.
    Sie fühlte sich elend. Doch sie beging weder Selbstmord, noch gab sie sich der Trunksucht hin. Vielmehr widmete sie sich mit unermüdlichem Interesse der Literatur, vor allem der Theaterliteratur. Sie war ihr eigentlicher Lebensinhalt. Sie verschlang griechische Dramen und Komödien in der Originalsprache. Sie konnte antike Werke aufzählen, die noch der Entdeckung harrten, und sie betonte gern, wie wenig elegant zeitgenössische Dramatiker die vergleichbaren Themen behandelten.
    Als Voltaire ihr anbot, sich der Erziehung ihrer drei Kinder anzunehmen, war Madame Spinoza unerhört erleichtert.
DER LÜGENHALS
    Mein Großonkel pflegte zu sagen: »Wer nie gelogen oder etwas gestohlen hat, der kann sich nicht auf eine Person wie Avraham verstehen.« Dann fügte er hinzu: »Aber wer hat das Glück gehabt, ein so ungewöhnliches Leben zu führen?«
    »Meinst du, es gibt keine ehrlichen Menschen, und wir sind alle Lügner und Betrüger?«, fragte Sasha.
    Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. »Alles menschliche Leben ist in gewissem Maß ein Betrug. Alle Erzählungen sind Illusionen. So gesehen ist die ganze Welt eine Schwindelei. Wir Menschen wissen, was das Richtige ist, und doch tun wir nicht immer das Richtige, aufgrund verschiedener Versuchungen, die uns besiegen. Wir wissen auch, was unrecht und falsch ist, und trotzdem tun wir es, obwohl wir die Möglichkeit haben, es zu unterlassen. Wir sind schwach, und um ertragen zu können, wer wir sind, betrügen wir uns und machen uns selbst etwas vor. Das ist auch der Grund dafür, dass wir Geschichten über Menschen, die Lüge auf Lüge

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