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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabi Gleichmann
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eines Adlers, und sie folgte mit selig klopfendem Herzen seinen Flugkünsten.
    Der Philosoph notierte in seinem Tagebuch: »Einen Menschen zu formen heißt mit den Kräften der Schöpfung zusammenzuarbeiten, und wer jemanden unterrichtet, entwirft ein neues Muster für den Bau der Welt.«
    An der Schwelle zur Pubertät verfasste Shoshana originelle Aufsätze – die noch heute in Voltaires Archiv in der Bibliothèque nationale in Paris aufbewahrt werden – über »Pythagoras als Politiker«, »Platons Gedanken über den Staat«, »Die Kultur der Maya vor der spanischen Eroberung Mittelamerikas«, »Über die Ausbreitung der Kulturpflanzen in Frankreich« und »Franz von Assisis Gespräche mit Vögeln«.
    Sie löste komplizierte arithmetische Probleme und las fasziniert Newtons Arbeit
Principia
über die Schwerkraft, die jeder Himmelskörper erzeugt.
    Das größte Interesse zeigte sie für Grammatik und Syntax. Sie sprach fließend fünf Sprachen und übersetzte schon in jungen Jahren griechische Dramen ins Französische.
    Obwohl Voltaire eine Anzahl kritischer Einwände gegen ihre französische Übersetzung von Sophokles’ Drama
Antigone
vorbrachte, setzte er sich dafür ein, dass das Stück im Théâtre-Français uraufgeführt wurde. Die hochgelobte Schauspielerin Thelma lieferte eine unvergessliche Rolleninterpretation, die Regie führte der gefeierte Raimondo di Vespucci. Das Publikum jubelte.
    An Madame Spinoza schrieb Voltaire, ihre Tochter, die gerade sechzehn geworden war, besitze »großes Talent, ihr Latein hätte Cicero gefallen, und ihr Griechisch hätte auf dem Areopagus schön geklungen. Bedauerlich allein, dass sie weiblichen Geschlechts ist«.
ÉMILIE UND DIE WISSENSCHAFT
    Shoshanas Lust, griechische Dramen zu übersetzen, verschwand eines Tages, ebenso plötzlich wie unerwartet. Stattdessen begann sie, sich in komplexe Arbeiten großer Wissenschaftler zu vertiefen. Ein ganzes Frühjahr lang mühte sie sich, im Geiste Newtons die Bewegung der Energie zu studieren. Sie forschte, untersuchte und notierte. Aber sie kam nicht zu dem gleichen Schlusssatz wie der Engländer. Nach praktischen Beobachtungen konnte sie aufzeigen, dass die Energie eines Objekts in Bewegung sich proportional zu dessen Masse und dem Quadrat seiner Geschwindigkeit verhält. Dies stellte Newtons These auf den Kopf und widersprach den Annahmen des naturwissenschaftlichen Establishments.
    Shoshanas Interesse an der Naturwissenschaft hatte mehrere Ursachen. Émilie du Châtelet war die wichtigste davon. Shoshana hatte Voltaire von der berühmten Naturforscherin sprechen hören. So fing es an.
    Voltaire sprach mit unverkennbarer Wärme in der Stimme von Émilie, die lange seine Partnerin gewesen war. Viele Jahre nach Émilies Tod sah er ihre Gestalt noch immer vor sich. Sie personifizierte für ihn die weibliche Güte und Klugheit. Es war deutlich, wie stark es ihn noch immer schmerzte, dass der Tod, der immer gleich unerwartete Tod, Émilie dahingerafft hatte, als ihr Leben sonnige Höhen erreicht hatte und Schönheit und Glück sie umgaben.
    Er sprach von Émilies Schönheit und ihrer Sinnlichkeit, ihrer schmalen Taille und ihren üppigen Brüsten, ihren großen Leistungen als Frankreichs erste Mathematikerin, Physikerin und Forscherin.
    Shoshana war immer stärker fasziniert von dem, was Voltaire erzählte. Sie wollte alles über Émilie wissen. Sooft sie Gelegenheit hatte, erwähnte sie Émilies Namen. Gleichzeitig spürte sie einen Hauch von Eifersucht, wann immer Voltaire von ihr sprach. Was sieht er bei ihr, das ich nicht habe?
    Du bist der, den ich liebe, und ich bin die, die du lieben sollst, in alle Ewigkeit, dachte Shoshana.
    Sie war inzwischen neunzehn Jahre alt und kein Kind mehr, sie hörte Stimmen in ihrem Kopf und wurde zuweilen von dem seltsamen Gefühl ergriffen, ein Loch im Gehirn zu haben, das mit etwas gefüllt werden musste, mit einer Liebe von solcher Kraft, dass sie nicht anders konnte, als Voltaire zu umarmen, ihn zu küssen und ihm zu sagen: »Ich liebe dich. Ich sehne mich nach dir.« Sie beschloss, das Loch in ihrem Gehirn von Émilie ausfüllen zu lassen, zu werden wie sie, sich aus Shoshana in Émilie zu verwandeln, ihren Platz einzunehmen, Voltaires Frau zu werden.
    Manchmal regten sich Gewissensbisse in ihr, weil sie versuchte, eine andere zu sein. Es kam ihr dann vor wie eine Art von Selbstmord. Andere Male wusste sie nicht mehr, wer sie war. Oft machte sie sich Vorwürfe. Aber ihr Herz konnte sie

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