Das Elixier der Unsterblichkeit
noch immer quälte und fast so stark war wie zuvor –, dass er in dem Doktor einen Vertrauten und wahren Freund gefunden habe.
Im Juli 1779 dauerte die Behandlung bereits sechs Monate. Avraham bat Gorell, am folgenden Donnerstag nicht zu kommen, sondern stattdessen ins Schlammbad zu fahren. Er wolle einen Tag für sich haben, intensiv arbeiten, sich auf eine neue Behandlungsmethode konzentrieren und sie erproben. Der Bürgermeister war einverstanden und verbrachte den ganzen Tag in Jefferson. Als er am Abend nach Hause kam, war er völlig erschöpft – das Schlammbad hatte ihm alle Kraft aus den Knochen gesaugt – und ging früh zu Bett.
Am Freitagmorgen ging Gorell wie gewöhnlich zum Doktor. Aber Avraham war nicht in seiner Praxis. Das Haus war leer. Der Doktor war verschwunden. Man suchte ihn überall, fand ihn aber nicht. Jemand meinte ihn in der Nähe von Gorells Haus gesehen zu haben, kurz nachdem dieser nach Jefferson gefahren war.
Erst spät am Abend entdeckte Gorell, warum der Doktor die Stadt so eilig verlassen hatte. Der Skandal war enorm. Avraham war in Gorells Haus eingedrungen, hatte den Geldschrank geöffnet, alle Geheimfächer des Schreibtischs geleert, jeden Cent, dessen er habhaft werden konnte, genommen und war mit Claire, der Tochter des Bürgermeisters, einer kleinen rothaarigen Siebzehnjährigen, die genauso unschuldig wie entzückend war, längst über alle Berge.
Gorell raufte sich vor Verzweiflung die Haare, er schrie und stieß Verwünschungen aus. Am nächsten Morgen heuerte er einen erfahrenen Kopfjäger indianischer Abstammung an und sandte ihn aus, um das Paar einzufangen. Der Kopfjäger suchte über ein Jahr nach ihnen. Aber sie waren ihm ständig einen Schritt voraus und gerieten in immer unbewohnbarere Gegenden.
ABENDESSEN FÜR ZWEI
Als Avraham, nachdem das gestohlene Geld zur Neige gegangen war, eines Morgens erwachte, war Claire fort. Sie hatte ihn verlassen.
Auf dem Tisch lag ein Zettel mit ihrer kindlichen Handschrift: »Nach einem Jahr in immer unwirtlicheren Gegenden glaube ich, genug über körperliche Anstrengungen zu wissen. Aber eins war schlimmer als irgendetwas anderes, nämlich zu fühlen, wie meine Seele in deiner Gesellschaft starb … Bon yoyage! C.«
Avraham geriet außer sich. Aber die Wahrheit, die grausame und offenkundige Wahrheit, ging ihm nach zahlreichen Misserfolgen, Rückschlägen und unvorhergesehenen Ereignissen schließlich doch auf: Man kann nicht ein Leben lang vor der Gerechtigkeit fliehen und als Gesetzloser leben.
Verzweiflung überkam ihn. Er beklagte sein Los und verfiel in törichtes Jammern: Sein Vater hatte sich nie etwas aus ihm gemacht, seine Mutter war schwach und hatte ihm keine Zärtlichkeit geschenkt, sein Herz war schon in der Kindheit schwer wie Blei gewesen, Voltaire hatte ihn gehasst und sich geweigert, ihm eine Erziehung angedeihen zu lassen; unwissend und ohne jemals eine goldene Zeit erlebt zu haben, würde er aus dem Leben gehen, ohne die Welt erobert und etwas von jener Ehre erlebt zu haben, die einem Mann anstand, der »de buena famiya« war.
Er dachte an Hélène und fragte sich, wo sie sein mochte. War sie noch mit ihrem Mann zusammen oder gingen sie getrennte Wege? Er stellte sie sich so schön vor wie damals, oder noch schöner, wenn das denn möglich war. Sie war das schönste Wesen, das er je erblickt hatte. Er war bereit, auf alles zu verzichten, auf sein ganzes Leben, nur um sie noch ein Mal für fünf Minuten treffen zu können.
Nach Claires Rückkehr nach New Orleans ging die Jagd auf Avraham noch ein paar Monate weiter. Aber die Nachforschungen des Kopfjägers blieben erfolglos.
Avraham beendete seine irdischen Tage, einige Wochen nachdem Claire ihn verlassen hatte, im Sumpfland der Everglades in Florida, wo er sich verirrte und zwei gierigen Kaimanen ein vorzügliches Abendessen bot.
GEGENWÄRTIG IN IHRER ABWESENHEIT
Der europäische Brauch, Familiennamen vom Vater auf den Sohn zu vererben, fiel mit der Forderung zusammen, die Moses bezüglich der Bewahrung des großen Geheimnisses an unseren Ahnvater Baruch gestellt hatte. Dies kann eine der Erklärungen dafür sein, dass Frauen in der Familie Spinoza immer als zweitrangig angesehen wurden.
Lange dachte ich, in der sich über sechsunddreißig Generationen erstreckenden Geschichte der Familie seien keine Mädchen geboren worden. Aber ich irrte mich, auch wenn ich von so gut wie keinem Mädchen den Namen weiß. Wenn ich jetzt an meine Kindheit
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