Das Elixier der Unsterblichkeit
zurückdenke, sehe ich, wie zumindest eine Frau aus dem Dunkel der Geschichte hervortritt – Shoshana, die dank der Erzählung meines Großonkels auf merkwürdige Art und Weise durch ihre Abwesenheit in meinem Leben ständig gegenwärtig war.
Mein Großonkel erklärte Sasha und mir, dass nur wenige Dinge so tiefe Spuren in einem Menschen hinterlassen wie die ersten Geschichten, die in der Kindheit den Weg in unser Herz finden. Sie begleiten uns durchs ganze Leben und schaffen in unserer Erinnerung Inseln, die wir immer wieder aufsuchen.
Für mich ist eine dieser Inseln von Shoshana bewohnt. Als mein Großonkel uns zum ersten Mal von ihr erzählte – dass sie tot war, ihr Geist uns jedoch umschwebte und man mittels eines Mediums mit ihr kommunizieren konnte –, kam sie mir so wirklich vor wie die Luft, die ich atmete. Ich ließ mich von ihrer Geschichte verzaubern und mitreißen. Ich lebte mich darin ein und träumte oft von ihr. Wahrscheinlich war ich von der magischen Atmosphäre beeinflusst, die mein Großonkel mit seinen Geschichten zu erschaffen vermochte. Auf jeden Fall war ich überzeugt, dass Shoshana mich sehen konnte und mir aus ihrem Himmel zulächelte.
Mein Großonkel weihte uns früh in seine geheimnisvolle Beziehung zu Shoshana ein. Wie ich oben berichtet habe, hatte er regelmäßig Kontakt mit ihr mittels eines berühmten Mediums in der rätselhaften Spiritistengesellschaft Ad Astra, die er jeden zweiten Mittwochabend im Hause von Adalbert Nagyszenti zu besuchen pflegte.
Anfangs versuchte mein Großonkel, mit seinen beiden Töchtern zu sprechen, die in hohen Schornsteinen in Auschwitz in Rauch aufgegangen waren. Das Schweigen bei dieser ersten Séance seines Lebens war beinahe unerträglich für ihn gewesen. Gerade als er misstrauisch geworden und im Begriff gewesen war, vom Tisch aufzustehen und den Raum zu verlassen, tauchte Shoshana auf und vermittelte ihm einen Gruß von seinen Töchtern auf der anderen Seite. Der Kontakt mit ihr bekam große Bedeutung im Leben meines Großonkels.
Ich habe gesehen, wie Tränen in seine Augen traten, wenn er von Shoshana sprach. Ich habe erlebt, wie sein Gesicht von Glück überstrahlt wurde angesichts der verborgenen Wahrheiten, die sie aus der Geisterwelt vermittelte – und die er großzügig mit uns teilte.
Aber habe ich ihn jemals ihre Botschaften in Frage stellen sehen? Daran kann ich mich nicht erinnern. Vielleicht war ich blind und taub dafür.
Durch Shoshana kam mein Großonkel in den Besitz von Geschichten, die in keinem Buch wiedergegeben werden. Zu allen Zeiten hat es Menschen gegeben, die Zugang hatten zur sogenannten unverfälschten Wahrheit. Menschen, die Dinge kannten, von denen kein anderer etwas wusste. Menschen, die sich an vergessene Wunder erinnerten. Menschen, die unser aller Leiden auf ihren Schultern tragen. Als Kind war ich überzeugt davon, dass Fernando ein solcher Mann war.
DIE ERZIEHUNG EINES MÄDCHENS
In seiner Eigenschaft als Vormund der Kinder Spinoza brachte Voltaire den fünfjährigen Nicolas in einer Klosterschule und den vierzehnjährigen Avraham in einem strengen Internat unter. Nur Shoshana durfte bei ihm auf Schloss Ferney wohnen.
Der Philosoph hielt sie zu harter Arbeit an und stellte hohe Anforderungen. Er betrachtete es als seine Aufgabe, dem Mädchen eine Erziehung und eine Ausbildung zu geben, wie sie normalerweise nur Jungen zuteilwurden. Zehn Stunden täglich, mit Ausnahme ihres Geburtstags, wurde sie von verschiedenen geduldigen Lehrern in Latein, Griechisch, Philosophie, Literatur und Mathematik unterrichtet.
Voltaire selbst widmete Shoshana viel Zeit. Geduldig lockte er sie in die Labyrinthe, die das Wissen der Menschen über das Universum und die Schöpfung darstellen. Er weihte sie in die Hauptströmungen der Geschichte der Philosophie ein. Dann und wann verbrachte er eine Stunde mit Betrachtungen über neue, großartige Fortschritte der Wissenschaft. Er sprach von Émilie du Châtelet und ihren Erkenntnissen auf dem Gebiet der newtonschen Physik. Manchmal kommentierte er ein Werk von Platon oder ein Stück von Vergil. Einen Tag in der Woche ließ er sie elegante Essays und Briefe formulieren. Er lehrte sie, wie man eine schöne und kunstvolle französische Prosa unter der Feder erblühen lässt. Er übte mit ihr die Kunst der freien Rede. Er kontrollierte ihre Kenntnisse in Grammatik und fand sie zufriedenstellend. Er sprach über Geschichte und Heilkunst. Er hatte den schier grenzenlosen Weitblick
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