Das Elixier der Unsterblichkeit
gegenseitig ein wenig guten Willen aufzubringen, um das Zusammenleben zu erleichtern.
Gilbert appellierte an Madame Spinoza, einen Brief an Voltaire zu schicken und um seine Hilfe bei der Überwindung der Schwierigkeiten zu bitten. Sie stimmte ihm zu, war jedoch unsicher, wie der Brief zu formulieren sei. Da diktierte ihr der alte Diener, was sie schreiben sollte. Zunächst sollte sie Voltaire daran erinnern, Shoshanas Abhandlung an den Vorsitzenden der Wissenschaftsakademie zu schicken, denn das würde das Mädchen auf bessere Gedanken bringen, als tagein, tagaus zu weinen und nur kurz ihr Weinen zu unterbrechen, um ihrer wütenden Stimmung freien Lauf zu lassen. Er meinte, sie müsse unterstreichen, dass Shoshanas launische Nerven wahrscheinlich durch ein geregeltes Leben als Forscherin diszipliniert würden.
DIE DEBATTE
Seiner Gewohnheit treu, handelte Voltaire schnell. Er schickte Shoshanas Arbeit mit einem überschwänglichen Empfehlungsschreiben an die Académie royale des sciences.
Der Vorsitzende der Wissenschaftsakademie, Jean-Baptiste Ferry, hatte großen Respekt vor Voltaire und machte sich umgehend an die Lektüre. Er prüfte die Arbeit kritisch, aber wohlwollend, und schon nach wenigen Seiten war er fassungslos. Er hatte noch nie eine so kühne, selbständige und umwälzende Arbeit gelesen. Er wünschte nur, sie wäre von einem Mann im reifen Alter verfasst worden. Dies hätte es zweifellos allen erleichtert, sich auf das Resultat der empirischen Untersuchungen und die scharf formulierte Schlussfolgerung einzulassen. Die gewaltige Kontroverse, zu der die Abhandlung aller Voraussicht nach Anlass geben würde, schreckte ihn ab. Die Kritik an Newton war ja vernichtend. Ferry war überzeugt, dass die junge Frau hinter diesem Werk eine wahre und gewissenhafte Forscherin war. Er fühlte, dass sie sehr wohl recht haben und mit ihrer Arbeit eine der grundlegenden Wahrheiten der Physik widerlegen könnte. Damit könnte sie den erbittertsten wissenschaftlichen Streit des Jahrhunderts auslösen.
Einen Moment lang verspürte er den Impuls, die Arbeit ins offene Feuer zu werfen und von den Flammen verschlingen zu lassen. Er unterließ es, wie es einem respektablen Wissenschaftler ansteht. Doch er wusste, dass der Impuls, diese Arbeit zu verbrennen, von mehreren Kollegen geteilt werden würde. Er ahnte, dass das Beratungskomitee der Wissenschaftsakademie alles tun würde, um die Veröffentlichung der Arbeit zu verhindern und die junge Frau zum Schweigen zu bringen. Die Nachwelt würde ihm den Vorwurf machen, eine der vielleicht größten wissenschaftlichen Entdeckungen des Jahrhunderts blockiert zu haben. Er analysierte rasch die Situation und beschloss, das Komitee zu umgehen und den Aufsatz direkt zur Publizierung weiterzugeben.
Im Frühherbst wurde die Arbeit unter dem Titel
Abhandlung über die Energie von bewegten Körpern
, von S. Spinoza, gedruckt. Vier herausragende Physiker, in Unkenntnis über das Alter und Geschlecht des Verfassers, waren als wissenschaftliche Experten eingeladen, um den Aufsatz in den schönen Räumen der Académie royale des sciences im Louvre zu diskutieren, unter der Leitung des Vorsitzenden Jean-Baptiste Ferry.
In dem voll besetzten Saal befanden sich mehrere Journalisten, viele Physiker, die gesamte naturwissenschaftliche Fakultät der Sorbonne, zwei hohe Repräsentanten des Hofes als Ehrengäste und der ständige Sekretär der Académie française, d’Alembert. Shoshana wurde von Voltaire begleitet.
Viele fragende Blicke wurden gewechselt, als der Vorsitzende Ferry in seiner Einleitungsrede mit beinahe übertriebener Höflichkeit den Verfasser der ersten Abhandlung präsentierte, die auf dem jährlichen Treffen des Physikerverbunds diskutiert werden sollte.
»Shoshana Spinoza. Ähum …«
Shoshana erhob sich. Voltaire flüsterte ihr zu, sich mit gestrecktem Rücken hinzustellen. Ein tiefer Seufzer ging durchs Publikum. Eine Frau? Das hatte niemand erwartet. Und so jung. Zweifellos die jüngste Person, die sich jemals im Vorlesungssaal der Wissenschaftsakademie befunden hatte. Die vier Physiker trauten ihren Augen nicht.
Voltaire wusste, dass mehrere dieser älteren Wissenschaftler, von Vorurteilen und tief verwurzelter Misogynie verblendet, die Existenz weiblicher Physiker nicht akzeptieren konnten. Er erinnerte sich an die Verachtung, die Émilie seinerzeit entgegengeschlagen war. Er stand auf und erklärte, an den Vorsitzenden Ferry gewandt, in respektvollem Ton, wie
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