Das Elixier der Unsterblichkeit
weil dein Vater ihr nie davon erzählt hat. Außerdem hatte ich das Buch an einem sicheren Ort versteckt.«
Gilbert zog das kostbare Stück hervor und überreichte es Nicolas.
»Dein Vater hat auch eine Art Testament für dich geschrieben, es steckt in einem versiegelten Umschlag, den ich ins Buch gelegt habe. Darin schreibt er von dem großen Geheimnis der Familie Spinoza und erklärt, warum das Buch nie von jemand anderem gelesen werden darf als von dir und deinem ältesten Sohn.«
»Gilbert, sag mir ehrlich, hast du nie die Versuchung verspürt, in dem Buch zu blättern? Wenn es alle Wahrheiten der Welt und die Lösungen der großen Mysterien enthält, hättest du doch die Verlockung fühlen müssen, dir ein wenig Weisheit anzueignen.«
Gilbert wand sich und zögerte, offenbar verlegen, mit der Antwort. Dann sagte er leise: »Diese Verlockung habe ich nie verspürt. Doch selbst wenn ich es getan hätte und der Versuchung, Hector Spinoza zu betrügen, nicht hätte widerstehen können, so hätte ich wenig Freude daran gehabt. Denn ich habe nie lesen gelernt.«
Wenn ich
Das Elixier der Unsterblichkeit
lese, merke ich, welch große Bedeutung das Buch für die Französische Revolution gehabt hat. Allerdings war ich nie der Meinung, die Art von Geschichte, wie sie in den Schulen unterrichtet wird, sei es wert, studiert zu werden, denn so lernt man nichts über die Wahrheiten einer Zeit. Dies hat dazu geführt, dass meine Kenntnisse dessen, was in vergangenen Zeiten geschehen ist, begrenzt sind.
So weiß ich zu wenig über die allgemeinen Strömungen, die zur Französischen Revolution geführt haben, dieser Wasserscheide in der Geschichte.
Dagegen habe ich oft behaupten hören, die radikale Philosophie der Aufklärung sei für die wichtigsten Impulse zur Revolution verantwortlich. Meine Unkenntnis mag als Entschuldigung gelten, wenn ich dies nicht so recht glaube. Wie hätte das zugehen sollen? Die Philosophen der Aufklärung – Voltaire, Rousseau, Montesquieu, Diderot, d’Alembert – hatten wenig Umgang mit dem Volk, und das Volk las keine Bücher, nicht weil zu wenig Geld für Bücher da war, sondern weil nur wenige lesen konnten. Und wer interessierte sich schon für schwer verdauliche Traktate aus der Feder tiefsinniger Denker. Zudem waren diese Philosophen im Jahre 1789 schon tot.
Es ist leicht, Passagen in Benjamin Spinozas großem Werk aufzuzeigen, die die Schlagwörter der Französischen Revolution vorwegnehmen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Über hundert Jahre vor dem Sturm auf die Bastille schrieb er über das Naturrecht und menschliche (notabene: nicht bürgerliche) Rechte, zeichnete das Bild der idealen Gesellschaft, in der kein Unterschied aufgrund von Rasse, Religion, Geschlecht oder wirtschaftlicher Stellung zwischen den Menschen gemacht wird. Das Vakuum, das sich auftat, als die Religion in Verruf kam und aus den Seelen floh, füllte er mit dem Glauben an die Menschheit, denn er zweifelte keinen Augenblick an der Fähigkeit des Menschen, die Gesellschaft durch Tugenden und durch den Willen, sich zu vervollkommnen, umzugestalten.
DIE UNZERTRENNLICHEN
Im Lycée Louis-le-Grand nannte man sie »die Unzertrennlichen«. Sie waren immer zusammen, keiner konnte sich vorstellen, dass sie während der wachen Stunden des Tages etwas ohne einander tun würden. In allen Fragen waren sie einer Meinung und dachten oft im selben Augenblick das Gleiche. Beide waren klein gewachsen und ähnelten sich sehr in ihrem Mienenspiel. Wenn Nicolas nicht die gigantische Nase hätte, pflegten die Kameraden scherzhaft zu sagen, könnte man sie für Zwillinge halten.
Aber sie waren keine Zwillingsseelen. Im Innersten waren sie ganz verschieden.
Der Bischof von Arras hatte Maximilien dazu erzogen, sich seiner Erwähltheit bewusst zu sein. Trotz seines einfachen Hintergrunds bildete sich der Junge alles Mögliche für seine Zukunft ein. Er war energisch, zielstrebig und freundlich, hatte jedoch einen harten und kalten Kern. Eins seiner grundlegenden Prinzipien war, man müsse sich stählen gegen die Prüfungen des Lebens. Er stand jeden Morgen früh auf, um – egal, ob es warm oder eisig kalt war – in einem nahen Bach ein Bad zu nehmen. Manchmal waren sein Gesicht und seine Hände vollkommen blau gefroren.
Nicolas dagegen war schüchtern und still und liebte es, in den Tag zu träumen. Der Rektor und Madame Léonie machten sich Sorgen um ihn, denn er wirkte so weltabgewandt. Sie ahnten nicht, dass er in
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