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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabi Gleichmann
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Später am Abend notierte er in seinem Tagebuch: »On disait partout qu’il était juif« (Man sagte überall, dass er Jude sei). Und er fügte hinzu, sein Besuch auf Ferney habe ihm die Wahrheit dieses Gerüchts bestätigt.
DER MANN AUS DER BRETAGNE
    Nicolas war sprachlos vor Verblüffung. Nicht weil Voltaire die Rolle als Vormund aus egoistischen Motiven angenommen haben sollte, sondern weil er selbst etwas Begehrenswertes besaß, von dem er nichts wusste.
    »Willst du wissen, worauf er es abgesehen hat?«, fragte Gilbert.
    Der Junge antwortete mit einem Nicken. Der alte Diener ließ ihn versprechen, dass alles unter ihnen bleiben werde. »Was ich dir erzählen will, wird dich vielleicht erstaunen«, begann Gilbert. »Es hat auch mich überrascht, als ich es kurz nach deiner Geburt von deinem Vater erfuhr. Er verlangte absolutes Schweigen und vollkommene Loyalität von mir. Ich akzeptierte diese Bedingung, doch ich muss gestehen, dass es Augenblicke gegeben hat, auf die ich nicht stolz bin, da es mir schwergefallen ist, mich daran zu halten. Aber ich habe das deinem Vater gegebene Versprechen nie gebrochen und nie ein Wort zu irgendjemandem gesagt.«
    Nicolas wurde immer neugieriger. Aber Gilbert bat ihn, sich noch zu gedulden, denn er müsse zuerst sein Herz erleichtern und von jenem Teil seiner Jugend erzählen, den er bisher hinter einem Schild von Diskretion und Höflichkeit verborgen habe. Es sei wichtig für Nicolas, die Umstände zu kennen, unter denen er, Gilbert, Hector Spinoza getroffen habe.
    Gilbert erzählte, sein wirklicher Name sei Giscard Bras und er komme aus dem kleinen Dorf Saint Marin in der westlichen Bretagne. Sein Vater war Fischer, doch sein Boot kenterte, und die Suche nach ihm musste aufgrund des schweren Sturms, der drei Wochen lang anhielt, eingestellt werden. Gilbert war damals neun Jahre alt, und als ältestes von sieben Geschwistern wurde er aus dem Haus geschickt, um auf einem Fischerboot zu arbeiten. Doch der Lohn war gering und die Not zu Hause groß. Deshalb begann seine Mutter, gegen ein paar Sous, den Leuten aus den Händen zu lesen und mit Hilfe von Gegenständen, die Verstorbenen gehört hatten, über deren Dasein im Jenseits weiszusagen. Über eine hellseherische Gabe verfügte sie indessen nicht. Aber eines Tages prophezeite sie, ihr Erstgeborener werde mit dem Gesetz in Konflikt geraten. In der Woche darauf wurde Gilbert wegen Gotteslästerung ins Gefängnis geworfen. Er hatte auf der Straße vor einer vorbeiziehenden Prozession nicht die Mütze abgenommen. Er war damals zwölf Jahre alt. Die kalte Zelle, in der Diebe und Mörder bereitwillig ihre Erfahrungen preisgaben, war die einzige Schule, in die er gegangen war.
    Es fiel Nicolas schwer sich vorzustellen, dass Gilbert, der allwissende Diener, der mit seiner Ruhe, seiner Verbindlichkeit und seinen ausgesuchten Manieren die Inkarnation französischen Naturells darstellte, dieser Mann, der nie die Fassung verlor oder die Stimme hob, ein durchtriebener Verbrecher, Dieb und Betrüger gewesen sein sollte und viele Jahre hinter Schloss und Riegel verbracht hatte. Schlimmer noch: Dass er sogar einen Mann erschlagen hatte.
BEGEGNUNG MIT UNSEREM ONKEL
    Eine Woche nach Großvaters Tod versammelte sich die ganze Familie bei uns zu Hause zur Testamentseröffnung. Es war das erste Mal seit vielen Jahren, dass alle sich trafen. Vater und Tante Ilona waren zerstritten. Onkel Carlo war während des Volksaufstands 1956 aus Ungarn geflohen und lebte seither in Wien.
    Sasha und ich waren zu klein, um uns an Onkel Carlo aus der Zeit vor dem Volksaufstand zu erinnern. Dies war sozusagen unsere erste eigentliche Begegnung mit ihm. Wir merkten sofort, dass er anders war als Vater, der sich immer in sich selbst zurückzog und abweisend war. Ich schäme mich fast zuzugeben, dass ich meinen Onkel auf Anhieb lieber mochte als meinen Vater. Er war fröhlich, herzlich, gesprächig und ein fast ebenso guter Geschichtenerzähler wie mein Großonkel. In seiner Art zu reden, in der listigen Flüchtigkeit seines Blicks lag etwas Trollhaftes.
    Wir mochten besonders seine Offenheit. Nicht weil er unbekümmert darüber redete, wie leicht reizbar sein toter Vater gewesen war, oder geradeheraus sagte, er wage es nicht, die Suppe seiner Mutter zu kosten, weil er eine Salzvergiftung befürchte, sondern weil er Themen ansprach, die man in unserer Familie wie selbstverständlich vermied. Bei uns sprach niemand von dem Schicksal, das man während des Krieges

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